Azura Schattensang

Schattendrache


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lachte laut. „Das sind Kinder. Sie sind hier aufgewachsen. Für sie ist das völlig normal.“ Er bückte sich und hielt einen Finger ins Wasser. „Probier mal.“

      Sharon folgte seiner Anweisung und verzog angewidert das Gesicht.

      „Bäh!“ Sie spuckte aus. „Widerlich salzig!“

      Sie funkelte ihn wütend an, als sie sein freches Grinsen sah. „Das hast du mit Absicht gemacht!“

      Entschuldigend hob er die Hände, dann bückte er sich erneut und fischte etwas aus dem Wasser. Mit einer schnellen Bewegung wusch er es sauber und reichte es ihr. Argwöhnisch nahm sie es entgegen.

      „Was ist das?“ fragte sie.

      „Das ist eine Muschel. Vielmehr eine Muschelschale.“ Er sah sie abwartend an.

      Sharon hielt die Schale hoch und betrachtete sie eingehend. „Sie ist wunderschön“, staunte sie.

      „Muscheln sind lebende Tiere. Ihr Fleisch kann man essen. Nun ja. Ich mag es nicht, aber andere Menschen mögen es. Andere Tiere ernähren sich ebenfalls von Muscheln. Wenn man die beiden Schalen von einander trennt, kommt man an das weiche Innenleben“, erklärte er und schob die Hände in die Hosentaschen, während er weiter durch das Wasser watete.

      Sharon verstaute die Muschelschale in ihrer Hosentasche und folgte ihm.

      „Woher weißt du so viel über das Meer?“, wollte sie wissen.

      „Viel weiß ich nicht. Nur das Wenige, was mein Vater mir beigebracht hat“, sagte er. „Bevor ich zum Orden gekommen bin, war ich mit meinen Eltern und meinen jüngeren Geschwistern oft im Sommer am Meer.“

      „Erstaunlich“, sagte sie und sah sich um. „Es ist wundervoll hier.“

      „Das stimmt.“ Constantin blieb stehen und sah sie an. „Aber leider sind wir nicht zum Vergnügen hier.“ Er blickte zum Hafen zurück. „Lass uns umkehren. Wir haben noch einiges zu erledigen.“

      Sharon wirkte enttäuscht, erhob aber keine Einwände.

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      Constantin klopfte an die Tür, bevor er sie öffnete und den Kopf hinein steckte.

      „Bist du so weit?“, fragte er und sah Sharon fragend an. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und war gerade dabei, ihr langes, blondes Haar unter einer weiten Kapuze zu verstecken. Ihre Kleidung war genau wie seine - alt und abgetragen. Nichts sollte sie beide als Personen von hohem Rang verraten, wenn sie auf die Rebellenführer trafen. Es hatte einige Tage gebraucht und sie etliche Mühen gekostet, aber schließlich hatten sie einen Kontakt zu der im Untergrund arbeitenden Rebellenbewegung knüpfen können. Constantin hatte sich als Sohn eines Bauern ausgegeben, welcher sich den Rebellen anschließen wollte. Scheinbar hatten die richtigen Leute davon Wind bekommen und so kam es, dass er eine Einladung zu einem Treffen erhalten hatte.

      „Fertig“, sagte Sharon und ging auf ihn zu. „Unglaublich, dass wir die selbe, billige Tarnung verwenden, wie Kyle und Aurelia damals.“ Sie schlug ihm spielerisch gegen die Schulter und grinste breit.

      Constantin brummte etwas unverständliches und stieg die Treppe hinab. Draußen vor dem Gasthaus blieb er stehen und setzte eine dunkle, unförmige Mütze auf. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch beobachtete er einige zankende Möwen. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn Sharon im Gasthaus zurückblieb. Allerdings gab sie sich in dieser Hinsicht völlig stur. Blieb nur zu hoffen, dass seine Befürchtungen von unbegründeter Natur waren.

      Er atmete tief durch und ging voran. Sharon hielt sich dicht an seiner Seite, während sie von der Hauptstraße abbogen und eine Seitengasse betraten. Sie führte sie fort von der Hafenpromenade und den Geschäften und hinein in einen stillen Winkel der Stadt. Die Häuser blieben gepflegt und ordentlich, aber es wurde merklich ruhiger in den engen Straßen und Gassen. Immer weniger Passanten begegneten ihnen, bis sie schließlich die einzigen Personen in diesem Teil der Stadt zu sein schienen.

      Vor einem kleinen schlichten Haus am Ende einer gewundenen Gasse blieben sie stehen. Die Fassade war, wie bei allen anderen Häusern, weiß gestrichen. Die Holztür leuchtete in einem dunklen Blau und im Vorgarten fanden sich mehrere hübsche Blumenbeete. Alles wirkte unscheinbar und gewöhnlich. Misstrauisch betrachtete Constantin das Haus, dann stieg er die wenigen Stufen zur Tür hinauf. Noch ehe er die Hand heben konnte, um den Türklopfer zu greifen, wurde die Tür nach innen aufgerissen.

      Ein großer Mann mit einer hässlichen Narbe im Gesicht musterte ihn grimmig. Dann blickte er an Constantin vorbei zu Sharon und dann die Gasse hinab und wieder hinauf.

      „Ist euch jemand gefolgt?“, fragte er barsch.

      „Nein. Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Constantin.

      Der Mann grunzte und winkte die beiden hinein. Im Flur bedeutete er ihnen stehen zu bleiben und unterzog sie einer eingehenden Musterung.

      „Wer ist die Frau?“, fragte er schließlich und konnte den lüsternen Ausdruck in seinen Augen nicht zur Gänze verbergen.

      Sharon schoss dem Mann einen finsteren Blick und reckte trotzig das Kinn vor, doch dann griff sie nach Constantins Arm und senkte den Kopf.

      „Das ist meine Frau“, antwortete Constantin rasch und legte demonstrativ einen Arm um sie.

      Der Mann grunzte wieder und kreuzte die Arme vor der Brust. „Woher kommt ihr und was wollt ihr?“

      „Wir kommen aus Lokkum - ein kleines Dorf weiter Land einwärts“, sagte er. „Seitdem die Armee des Schattenkönigs über das Land gezogen ist und alles auf ihrem Weg dem Erdboden gleich gemacht hat, sind wir heimatlos. Wir haben alles verloren - nur die Kleider an unseren Leibern sind uns geblieben.“ Bei diesen Worten begann Sharon herzergreifend zu schluchzen und drückte ihr Gesicht an seine Schulter.

      „Die Königin scheint sich nicht für uns zu interessieren“, sprach er in einem abfälligen Ton weiter. „Darum haben wir beschlossen, uns den Rebellen anzuschließen. Wer braucht schon eine Königin und ihre leeren Versprechungen? Ich bin der Meinung, dass wir ohne sie besser dran sind.“

      Der Mann mit der Narbe grinste breit und schlug ihm mit einer seiner riesigen Pranken auf die Schulter. „Deine Einstellung gefällt mir, Junge. Ich werde unseren Anführern Bescheid geben. Wir werden sehen, was sie von eurer Geschichte halten.“

      Er drehte sich um und bedeutete ihnen ihm zu folgen. Seine Füße verursachten ein schlurfendes Geräusch auf dem Boden, während er sie in einen schmalen Gang hinein führte, in dem sich lediglich zwei Türen befanden. Der Mann öffnete eine davon und wies sie an einzutreten. „Wartet hier, bis ich zurück bin.“ Damit schloss er hinter ihnen die Tür und verschwand.

      Constantin wartete, bis die schlurfenden Schritte verklungen waren, dann öffnete er rasch die Tür und spähte auf den Gang hinaus. Das Narbengesicht stand vor der Tür des Nachbarzimmers und wartete scheinbar darauf hineingelassen zu werden. Eine Stimme drang aus dem Zimmer auf den Flur hinaus und Constantin zog schnell den Kopf zurück. Leise drückte er die Tür ins Schloss.

      „Und?“, fragte Sharon, doch er legte lediglich einen Finger an die Lippen. Suchend sah er sich in dem kleinen und spärlich eingerichteten Zimmer um. Schließlich blieb sein Blick an einer leeren Vase aus Glas hängen, die auf einem niedrigen Schränkchen stand. Geschwind schnappte er sie sich und ging damit zur Wand zum Nachbarraum. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder, drückte die Vase gegen die Wand und legte eine Hand über die Öffnung. Dann schloss er die Augen und ließ seine Magie hineinfließen. Neugierig kam Sharon näher und ließ sich neben ihm nieder. Constantin öffnete die Augen und lächelte selbstgefällig.

      „Hör gut zu“, sagte er und brachte ein Ohr dicht an die Vase. Sharon tat es ihm gleich und schnappte nach Luft.

      „Wo lernt man denn so etwas?“, fragte sie empört.

      Constantins Grinsen wurde breiter. „Ich hatte einen