Azura Schattensang

Schattendrache


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      Kapitel 5

      Ostarmanoth – 324 n. DK

      Constantin ließ die Erinnerungen über sich hinweg strömen wie die Fluten eines Flusses, während er im Rahmen der Tür seines alten Zimmers lehnte.

      Nach einer wochenlangen Reise hatten sie endlich den Orden erreicht. Zu seinem Erstaunen hatte sich Sharons Gesellschaft als äußerst angenehm erwiesen. Sie konnte tatsächlich sehr nett und hilfsbereit sein und nahm auch seine kleineren Späße mit Humor. Die Tage waren wie im Flug vergangen und insgeheim war er ein wenig enttäuscht, dass sie bereits den Orden erreicht hatten.

      Seufzend schob er die Gedanken beiseite und trat ein. Es gab wichtigere Dinge, um die er sich zu kümmern hatte. Auf ihrem Weg nach Süden hatten sie mehrere Dörfer passiert und sich so unauffällig wie möglich nach den Rebellen erkundigt. Das Unterfangen hatte sich allerdings als schwieriger herausgestellt, als sie angenommen hatten. In den meisten Dörfern sorgten inzwischen Aurelias Soldaten für Ordnung, sodass die Rebellen sich mehr und mehr in den Untergrund zurückzogen. Nichts desto trotz hatten sie Einiges in Erfahrung bringen können. Das nächste Ziel würde Fort Kaltwasser werden.

      Eigentlich hatte er vorgehabt Sharon im Orden zurück zu lassen und alleine weiter zu reiten, doch er zweifelte daran, dass ihm dies gelingen würde. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, freute er sich über ihre Gesellschaft.

      Vor einem Schrank blieb er stehen und öffnete die Tür, um hinein zu sehen. Anschließend ließ er die Tasche von seiner Schulter gleiten und begann einige Dinge aus dem Schrank darin zu verstauen. Sein Zimmer war noch immer so, wie er es damals zurückgelassen hatte. Er vermutete, dass es sich bei Aurelias Zimmer nicht anders verhielt. Wenn er fertig war, würde er rüber gehen und auch dort einige Sachen zusammensuchen. Aurelia würde sich sicherlich freuen, einige ihrer liebsten Bücher wieder in Händen zu halten.

      Schmunzelnd dachte er an ihre gemeinsame Vergangenheit zurück. Es war gerade einmal etwas mehr als ein Jahr vergangen und doch fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Zu viele Dinge waren in zu kurzer Zeit geschehen, um alles zu begreifen. Aurelia war nun Königin und bereits verlobt. Meister Albion weilte nicht mehr unter ihnen und er – Constantin - hatte sein Erbe angetreten.

      Mit einem tiefen Atemzug beruhigte er seine aufschäumenden Gefühle, als er an die traurigen Gesichter dachte, mit denen sie am Morgen von den Ordensmitgliedern begrüßt worden waren. Der Schock saß noch immer tief, auch wenn alle darum bemüht waren den Anschein von Normalität zu wahren. Trotz der traurigen Umstände hatten sie ihn freudig willkommen geheißen und ihm, als neues Oberhaupt, ihre volle Unterstützung zugesichert.

      Noch immer fragte sich Constantin, ob sein Meister weise gehandelt hatte, ihn als seinem Nachfolger zu ernennen. Doch auch wenn er selbst so seine Zweifel darüber hegte, würde er sein Bestes geben, um den Orden zum alten Glanz zu verhelfen. Den ersten Schritt würde er am Abend gehen, wenn er den Mitgliedern von Aurelias Wunsch berichtete. Er hoffte zutiefst, dass sie alle damit einverstanden sein würden.

      Mit einem letzten Blick in den Schrank schnürte er die Tasche zu und schulterte sie. Danach verließ er den Raum und öffnete die Tür zu Aurelias Zimmer.

      Wie er vermutet hatte, fand er auch hier alles unberührt vor. Langsam schritt er durch das Zimmer und blieb vor einem Bücherregal stehen. Mit dem Finger strich er über die Buchrücken, dann begann er eines nach dem anderen herauszuziehen und in der Tasche zu verstauen. Der Gedanke daran, dass sie beide nie wieder hierher zurückkehren würden, wirkte befremdlich. Schließlich hatten sie den größten Teil ihres Lebens an diesem Ort verbracht. Es war ihr Zuhause. Constantin hielt in der Bewegung inne und betrachtete seine Hand. Richtig. Es war ihr Zuhause gewesen. Aurelias Zuhause war nun Schloss Ehrenthal. Wohin ihn sein Weg noch führen würde, würde sich mit der Zeit zeigen. Seufzend fuhr er damit fort, die Bücher in die Tasche zu packen. Als er alles Wichtige beisammen hatte, verließ er das Zimmer und schloss die Tür. Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür hatte etwas Endgültiges. Mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen schritt er die Treppe hinab.

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      Wenige Tage später fanden sich Constantin und Sharon auf dem Weg nach Fort Kaltwasser wieder. Die Gespräche mit den Ordensmitgliedern waren besser verlaufen, als Constantin zu träumen gewagt hatte. Alle waren von Aurelias Idee begeistert gewesen und hofften, dadurch dem Orden neuen Aufschwung verleihen zu können. Umgehend hatte Constantin eine Nachricht nach Schloss Ehrenthal gesandt, um die Dinge möglichst schnell in Bewegung zu setzen.

      Darüber immer noch hoch erfreut, saß er gut gelaunt auf seinem Pferd und genoss die warmen Strahlen der Frühlingssonne. Spannende Zeiten warteten auf sie. Unbewusst begann er zu summen und bemerkte es erst, als er Sharons Blick auf sich spürte. Sie ritt dicht neben ihm und beobachtete ihn stumm. Natürlich hatte sie darauf bestanden, ihn weiterhin zu begleiten. Selbst wenn die Aussicht darauf eine längere Zeit im Orden verbringen und dessen Lehren studieren zu können, recht verlockend gewesen war.

      Er wandte sich ihr zu und schenkte ihr ein breites Lächeln. Ein verwirrter Ausdruck legte sich auf ihre Züge, aber dann erwiderte sie das Lächeln.

      Sie erreichten Fort Kaltwasser ohne besondere Zwischenfälle. Die Stadt lag direkt an der Küste und der Geruch des Meeres erreichte sie, lange bevor sie die Stadt oder das Meer selbst sehen konnten. Fort Kaltwasser besaß einen riesigen Hafen und war ein wichtiger Knotenpunkt für den Handel. Hier wurden Güter aus Mherdon und den weiter entfernten Inseln des Westens nach Canthan eingeführt und wiederum Waren aus Canthan und Arthenholm in die Länder auf der anderen Seite des Meeres verschifft. Auch wenn es dem Land unter der Herrschaft Roderichs sehr schlecht ergangen war: Hier hatte zu jeder Zeit der Handel floriert und die Bewohner machten keinen Hehl aus ihrem Wohlstand.

      Die weißgetünchten Gebäude waren gepflegt, die Straßen aufgeräumt und im guten Zustand. Überall herrschte rege Betriebsamkeit, während die Sonne von einem blass blauen Himmel herabsah. Möwen zogen kreischend ihre Kreise und die Wellen krachten tosend gegen die Kaimauern.

      Als sie den Hafen erreichten, zügelte Sharon ihr Pferd und starrte mit offenem Mund auf das tiefblaue Wasser. Constantin sah sie an und lachte leise. „Warst du etwa noch nie am Meer?“

      „Nein...“, hauchte sie. „Arthenholm hat keine Küste. Und soweit nach Westen hat es mich noch nie verschlagen.“

      „Na schön. Lass uns nach einer Unterkunft suchen und die Pferde unterstellen. Danach können wir eine kleine Erkundungsrunde unternehmen“, schlug er vor.

      „Wirklich?“ Sharon strahlte ihn an und er musste wiederholt lachen.

      Sie ritten die Straße oberhalb des Hafengeländes entlang und machten vor einem Gasthaus mit dem Namen „Zum goldenen Anker“ Halt. Die Betreiber waren ein nettes, älteres Ehepaar und gaben ihnen die Schlüssel für zwei gemütlich eingerichtete Zimmer.

      Nachdem sie die Pferde versorgt hatten, führte Constantin Sharon hinunter zum Hafen. An den Docks lagen hunderte von Schiffen in den unterschiedlichsten Größen vertäut. Neben kleineren Fischerbooten, gab es große Dreimaster und niedrige Schleppschiffe. Ganz am Ende eines langen Steges lag ein riesiges Handelsschiff mit vier Masten und bunten Klüversegeln. Als Galionsfigur diente der Kopf eines Löwen, welcher golden im Licht der Sonne glänzte. Bei dem Schiff handelte sich um das Flaggschiff der Handelsgilde, das in die entlegensten Winkel des Ozeans segelte, um dort seltene Waren zu laden und nach Canthan zu bringen.

      Vom Hafen führte ein Weg hinunter zum Strand, dem Constantin und Sharon folgten. Spielende Kinder rannten kreischend über den Sand und in die Brandung hinein. Sharon blieb stehen und beobachtete die Kinder.

      „Wenn du die Stiefel ausziehst, kannst du auch hinein gehen“, meinte Constantin und begann seine Stiefel aufzuschnüren.

      Sie folgte seinem Beispiel und krempelte die Hosenbeine hoch. Zögernd ging sie hinter Constantin her, als dieser durch den feuchten Sand ins Wasser watete. Die Wellen trugen feine Schaumkronen und