Irene Dorfner

Hilferuf aus Griechenland


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viel Zeit ließ und die Frau fast wahnsinnig machte.

      „So, die ist jetzt wenigstens wach geworden“, lachte Ursula, die sich sehr gerne mit unfreundlichen Menschen auseinandersetzte und ihnen ganz schön zusetzen konnte. Und das, ohne selbst unfreundlich zu sein.

      „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden, so viel für dein Übergepäck zu bezahlen? Ich bin ja fast aus den Latschen gekippt, als ich gehört habe, dass du zweihundert Euro bezahlen musst. Das ist ja fast so viel wie die Flugkosten. Für das Geld kannst du dir auf Kos jede Menge neue Kleidung kaufen.“

      „Nein, das kann ich nicht. In meiner Größe finde ich dort bestimmt nichts, schau mich doch an! Für meine Größe bin ich etwas füllig. Ich habe kurze, dicke Arme, die nicht in Normkleidung passen. Und meine Schuhe sind Spezialanfertigungen, die finde ich auf Kos auf keinen Fall. Nein, ich fand das relativ günstig. Außerdem ist es nur Geld, davon habe ich genug.“

      „Wie meinst du das?“

      „Erst einmal habe ich einen tollen Job, in dem man nicht schlecht verdient, das weißt du ja selber. Dann komme ich aus einem reichen Elternhaus, meine Eltern haben in Stuttgart eine Fabrik für Metallteile für die Autoindustrie. Mein Großvater hat die Firma nach dem Krieg gegründet und mein Vater hat sie nach dessen Tod übernommen.“

      Leo war verblüfft, denn bislang hatte er den Eindruck gehabt, dass Ursula Kußmaul aus ganz normalen Verhältnissen stammte. Sie und reich? Für ihn kaum vorstellbar.

      „Jetzt beruhige dich mal, es ist nur Geld, sonst nichts. Christine hat nicht übertrieben, als sie mir erzählt hat, dass du sehr geizig bist. Ich habe den Umstand, auch als Schwäbin nicht auf den letzten Cent achten zu müssen, meinem Elternhaus zu verdanken, das ist nicht mein Verdienst. Nach allem, was ich in meinem jungen Leben durchmachen musste, habe ich gelernt, dass Gesundheit weitaus mehr wert ist, als alles Geld der Welt.“

      „Trotzdem hättest du dieses Detail längst erwähnen können.“

      „Warum hätte ich das tun sollen? Das ändert nichts an meiner Person und meinem Charakter.“

      Das Frühstück wurde gebracht und Ursula langte kräftig zu. Es gab Zeiten, in denen sie nicht essen konnte und die waren zum Glück vorbei. Sie war gesund und konnte tun und lassen, was sie wollte.

      „Trotzdem finde ich die Kosten für das Übergepäck viel zu übertrieben. In deinem Gepäck gibt es sicher Dinge, die man hätte aussortieren können. Frauen packen ihre Koffer sowieso immer viel zu voll.“

      „Jetzt beruhige dich, Leo. Wenn ich für mich entscheide, Übergepäck mitzunehmen und auch anstandslos zu bezahlen, dann ist das doch meine Angelegenheit und geht dich überhaupt nichts an. Ich muss mich weder vor dir noch vor irgendjemand anderen rechtfertigen. Und jetzt sprechen wir nicht mehr darüber, das Thema ist erledigt.“

      Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, während Ursula fast alles alleine aufaß. Leo bekam kaum einen Happen hinunter. Er war sehr aufgeregt und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Vor allem hatte er Schiss vor dem Flug, denn er flog überhaupt nicht gerne.

      Nach dem Frühstück passierten sie die Sicherheitsschleuse, wobei es bei Ursula überall piepte und es eine Ewigkeit zu dauern schien, bis sie endlich durchgelassen wurde. Ihr war das schon bekannt und sie nahm es ruhig hin, sie schien sogar amüsiert. Während den wenigen Minuten hatte sie mit den Sicherheitsbeamten einen Heidenspaß.

      „Ich würde wahnsinnig werden, wenn es bei mir an allen Ecken und Enden piepen würde.“

      „Durch die vielen Operationen ist nun mal das eine oder andere Metallteil in meinem Körper verblieben, worauf natürlich das Gerät sofort anspringt. Das kenne ich schon und warte schon darauf. Es ist vorgekommen, dass ich sogar die Schuhe ausziehen musste. Engländer und Amerikaner sind in der Beziehung ganz schlimm, sie wollen alles kontrollieren. Wenn die Sicherheitsleute meine deformierten Füße sehen, geben sie sofort Ruhe und winken mich durch. Was glaubst du, was ich alles problemlos in meinen klobigen Schuhen schmuggeln könnte?“

      Sie hatte einen so herzerfrischenden, trockenen Humor, dass Leo für einen Moment sogar seine Flugangst vergaß.

      Dann war es soweit. Der Flug nach Kos wurde aufgerufen und sie nahmen ihre Plätze ein. Natürlich saßen sie nebeneinander, dafür hatte Ursula gesorgt. Sie rollten zur Startbahn und Leo wurde immer ruhiger und auch blasser. Sein Puls stieg.

      „Was ist mit dir? Sag mir nicht, dass ein so großer Kerl Schiss vorm Fliegen hat?“

      Leo nickte nur. Er hatte sich bei den wenigen Flügen, die er bislang in seinem Leben überstehen musste, angewöhnt, immer den Blick starr gerade aus zu halten und sich möglichst nicht zu bewegen. Getränke und Essen lehnte er grundsätzlich ab und würde auch nie im Leben in einem Flugzeug zur Toilette gehen. Er saß einfach nur angeschnallt in seinem Sitz, starrte geradeaus und ergab sich seinem Schicksal.

      Ursula konnte ihn nicht verstehen, sie flog für ihr Leben gerne. Das war für sie eine sehr angenehme Art, schnell und bequem um die ganze Welt zu reisen. Sie kramte in ihrer quietschgelben, sehr großen Handtasche, die sie verbotenerweise neben sich am Boden platziert hatte, und gab Leo einen Kaugummi. Er winkte dankend ab.

      „Nimm schon! Der ist gegen den Druck in den Ohren beim Start, das ist für mich am Unangenehmsten. Und natürlich das schlechte Essen.“ Dass es sich bei ihrem Kaugummi um einen besonderen handelte, der mit beruhigenden, rein pflanzlichen Stoffen versehen wurde, verschwieg sie ihm lieber. Sie war sicher, dass er zum ersten Mal einen Flug genießen würde. Ihr half der Kaugummi immer, wenn sie sich aufregte - was ab und zu vorkam - und sie keine Lust auf Medikamente hatte. Wenn sie einige Minuten kaute, entfaltete sich die gewünschte Wirkung und sie konnte wunderbar schlafen. Sie bezog diese Kaugummis schon seit einigen Jahren aus Holland, da sie in Deutschland nicht erhältlich waren. Es kümmerte sie nicht, welche Stoffe diese Kaugummis genau beinhalteten und dass sie offenbar hier illegal waren. Ihr Arzt wusste Bescheid, hatte ihr sogar dazu geraten. Außerdem halfen sie ihr und das war alles, was sie interessierte. Trotzdem hatte sie vorsorglich die Banderole entfernt und in handelsübliche geschoben, man konnte ja nie wissen.

      Ursula hatte Leo von ihrer damaligen Griechenland-Zeit erzählt. Leo interessierte sich nicht dafür, war aber so höflich, ab und zu einen Kommentar abzugeben. Dann blätterte sie in ihren Klatschzeitschriften, die sie aus ihrer großen Handtasche zog. Sie konnte beobachten, wie sich Leo langsam entspannte und dann sogar fast eine halbe Stunde schlief. Das Frühstück, das von der netten Flugbegleiterin angeboten wurde, lehnte sie dankend ab, schließlich hatte sie ausgiebig gefrühstückt. Sie nahm nur einen Orangensaft, der fürchterlich schmeckte. Leo verschlief diese Zeit und Ursula bat darum, ihn nicht zu wecken.

      Das Wetter wurde immer besser. Ursula machte jede Menge Fotos. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde sie. Was hatte sie für eine unbeschwerte Zeit auf der griechischen Insel verbracht! Damals war sie nach der überstandenen Krebserkrankung vor den mitleidigen Blicken ihrer Familie und Freunde geflohen. Sie war mit dem Rucksack zwei Wochen durch Griechenland getrampt, wobei sie ihren damaligen Freund kennenlernte. Sie beide reisten gemeinsam und landeten auf Kos, wo sie eine wunderschöne Zeit verbrachten. Die Menschen waren freundlich und offen, keiner sah sie mitleidig an. Es wurden Fragen über ihre Narben gestellt, die sie bereitwillig beantwortete. Wenn die Neugier befriedigt war, wurde nie mehr darüber gesprochen. Hier lernte sie, das Leben zu genießen. Heute wusste sie, dass ihr die Zeit in Griechenland durch sehr schwere Stunden geholfen hatte, von denen sie in den Jahren danach sehr viele durchleiden musste. Aber das war Schnee von gestern. Sie wischte die schlechten Gedanken mit einer Handbewegung einfach weg. Auch eine Geste, die sie auf Kos gelernt hatte.

      Die Landung auf dem kleinen Flughafen Kos war perfekt. Leo war aufgewacht und hielt sich am Vordersitz fest. Er war kreidebleich.

      „Entspann dich, du hast es gleich geschafft.“

      Leo konnte sich nicht entspannen und sehnte den Moment herbei, in dem das Flugzeug endlich gelandet war. Er stand als einer der Ersten auf und konnte es nicht erwarten, das Flugzeug endlich verlassen zu können. Draußen sah er sich erstaunt um. Noch niemals zuvor hatte er so einen kleinen