Sophie Lang

Violet - Verfolgt / Vollendet - Buch 6-7


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würde nicht so viel Zeit mit Adam verbringen müssen, um deren geheime Nachrichten abzufangen.

      Meine nächtlichen Meditationsphasen nehmen an Anstrengung und Intensität zu. Ich kann mittlerweile nur noch schwer unterscheiden, ob ich meditiere oder einem meiner schaurigen Alpträume erliege. Doch jedes Mal, wenn ich morgens aus der Trance erwache und es ist noch der gleiche Tag, atme ich durch, bin erleichtert, dass ich nicht in die Astralwelt abgedriftet bin. Wäre Hope nicht an meiner Seite, wäre ich schon längst ein Fall für die Klapsmühle.

      »Kann ich helfen?«, frage ich vorsichtig. Tausendundein Schweißtropfen perlen von Jesses Stirn.

      »Schnapp die schwerste Kiste und schaff sie runter«, sagt er schroff. Er ist nicht besonders freundlich zu mir. Etwas zehrt wieder an ihm, seitdem wir uns alle hier an diesem Ort gemeinsam verstecken. Mit gemeinsam meine ich vor allem Adam, Jesse und mich. Jesse und ich sind nur Freunde, das haben wir unter Stahl und Beton im Innern des Atombunkers per Faustschlag besiegelt. Aber er ist noch nicht darüber hinweg, dass Adam und ich jetzt zusammengehören und uns auch nicht vor allen anderen verstecken. Es fällt ihm offensichtlich schwer, mich in Adams Armen zu sehen.

      Ich schaue mir die Ladung auf dem Anhänger an. Es sollte seltsam sein, so etwas Anstrengendes von einer jungen, schlanken Frau wie mir zu erwarten, aber es haben sich alle an diese Umstände gewöhnt. Mich eingeschlossen. Ich lächle Jesse ehrlich an und wende mich von ihm ab, widme meine Aufmerksamkeit den gelöschten Jungs, die mit vereinten Kräften eine der Kisten heranschleifen. Sie passen unmöglich nebeneinander durch die schmale Höhlenöffnung und würden auch den steilen Abstieg über die Felsen nur unter größter Mühe bewältigen können. Es bleibt uns dennoch nichts anderes übrig, als Muskelkraft anzuwenden oder wie in meinem Fall, über die tatsächlichen physikalischen Zusammenhänge der Welt ein bisschen besser Bescheid zu wissen.

      »Lasst mich mal ran«, sage ich zu den gleichaltrigen, muskelbepackten Jungs und schnappe mit Leichtigkeit die Kiste. Obwohl alle schon so oft gesehen haben, zu was ich fähig bin, sind sie immer wieder aufs Neue erstaunt. Selbst über eine solche Kleinigkeit, wie eine Kiste hochzuheben.

      Ich spüre das Gewicht kaum und folge Flavius hinunter in die Höhle, in unser Lazarett. Ein kleiner, benzinbetriebener Generator brummt neben dem Einstieg stoisch vor sich hin. Er liefert genügend Energie, um die LEDs, Screens, Ashas medizinische Gerätschaften und Kristens Forschungsapparaturen in der tiefer gelegenen Höhle zu betreiben.

      Unten angekommen erwartet mich meine Schwester bereits, die einen der Gelöschten anweist, wo er seine Kiste abzustellen hat.

      »Ah Freija, stell sie dort hinten zu den anderen. Wir müssen erst alles auspacken und dann sehen, wo wir genügend Platz haben, um die Geräte aufzubauen.« Ich platziere die Kiste wie befohlen und wage es nicht, meiner jüngeren Zwillingsschwester zu widersprechen. Ich frage mich, wie schon so oft zuvor, warum Professor Arrow fast vier Jahre gewartet hat, bevor er aus dem Spendergenom meiner Mutter einen weiteren weiblichen Klon erzeugt hat, als mich Flavius an der Schulter anstupst und aus meinen Gedanken reißt.

      »Wenn sie dir nicht von Tag zu Tag ähnlicher sehen würde, dann würde ich nicht glauben, dass ihr verwandt seid«, sagt er trocken. »Sie kommandiert uns alle herum, wie ein General. Selbst die Haare sind jetzt so kurz, als wollte sie sich bei den US-Marines bewerben.«

      »Bei wem?«, frage ich unwissend.

      »US-Marines. Eine legendäre Eliteeinheit der vereinigten Staaten von Amerika.«

      »Das war vor der Zeit der Sektionierung, nehme ich an?« Flav nickt. »Ich hoffe, sie bleibt wie sie ist und zeigt kein Interesse an Militär und Krieg«, sage ich noch und schenke Flavius ein wissendes Lächeln, weil ich natürlich nur zu gut weiß, was er meint. Asha benimmt sich tatsächlich wie eine kleine Anführerin.

      Jetzt kommt Kristen in die Höhle. Sie hat ihr blaues Haar hochgesteckt und sich mit einem Mundschutz bewaffnet. Sie tritt an Trishs Feldbett und injiziert ihr die übliche Dosis einer grünlichen Mixtur in den Venenzugang.

      Ich passiere ihr Blickfeld und mir entgeht nicht, dass sie mich ansieht und mir mit ihren Augen folgt. Ich vermeide den Kontakt und sehe mich stattdessen weiter in der Höhle um. Meine Schwester hat sie in eine anschaubare, medizinische Station verwandelt und ich muss zähneknirschend zugeben, dass Kristen ihren maßgeblichen Anteil dazu beigetragen hat, dass wir jetzt über genügend Ausrüstung verfügen. Ausrüstung, um die Verletzten zu versorgen und medizinisch zu überwachen und chemische Substanzen, damit sie sich wieder an so rudimentäre Dinge erinnern können, wie zum Beispiel Körperpflege oder die Notwendigkeit etwas zu essen. Offensichtlich fällt es den Jungs, die sie in der Forschungseinrichtung gelöscht haben, nicht so leicht wie mir, sich an die alltäglichen Dinge des menschlichen Alltags zu erinnern. Das erste, was ich nach meiner Löschung gesucht habe, war eine Dusche und etwas zu Essen.

      Jetzt ist Asha da und nimmt mich endlich in ihre Arme. Sie drückt so fest zu, dass es weh tun könnte. Eine herzliche Geste, die wir uns angewöhnt haben, jedes Mal zu praktizieren, wenn wir uns sehen.

      »Wie geht es Trish heute?«, frage ich und betrachte dabei traurig die Lederriemen, mit denen wir Flavius´ Freundin an den Metallstäben ihres improvisierten Krankenbetts festgeschnallt haben.

      »Im Moment gut, weil sie schläft. Vor anderthalb Stunden ist sie komplett durchgedreht und ich musste ihr ein Anästhetikum spritzen, damit sie sich nicht selbst oder einen von uns umbringt.«

      »Das ist sehr traurig. Konntest du schon mehr herausfinden?«, frage ich und mir ist bewusst, dass ich diese Frage jeden Tag erneut stelle, weil ich jeden Tag hoffe, dass ein Wunder geschieht.

      »Ich habe das Fortschreiten der Metamorphose verlangsamen können, habe aber keine Ahnung, wie ich sie wieder rückgängig machen kann. Es ist wie bei der Tollwut. Die Erreger werden über einen Biss übertragen. Und wenn die Krankheit erst einmal ausgebrochen ist, dann ist der Tod des Infizierten unausweichlich.«

      »Du hast doch gesagt, sie wird nicht sterben?«

      »Nein, aber wenn mir nichts einfällt, dann wird sie sich in einen dieser Zombies verwandeln. Und dann wird sie vergessen, dass sie einmal ein Mensch war und das unterscheidet sie nicht wesentlich von einer Toten.«

      »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

      Asha streicht sich über das Gesicht, wendet den Blick ab.

      »Einige Wochen - wenn wir Glück haben.«

      Asha ist ein Phänomen. Ein medizinisches Wunderkind. Wenn sie glaubt, dass Trish nur noch einige Woche bleiben, dann ist das wie ein unumstößliches Naturgesetz. Die Frage ist nur, ob wir alle Gesetzmäßigkeiten kennen?

      »Was hast du herausgefunden? Erzähl es mir. Ich will mehr davon verstehen.« Asha zieht mich an meinem Arm zur Seite vor einen der Screens, die wild hintereinander und nebeneinander gestapelt wurden. Ich blicke mich mit hochgezogenen Augenbrauen um.

      »Sag bitte nichts! Ich weiß, dass hier dringend mal jemand aufräumen muss, aber ich habe einfach keine Zeit dafür.«

      »Ist schon gut. Ich mag das Chaos. Es entspricht mehr der natürlichen Ordnung als alles andere.« Asha lächelt mich an, dann zieht sie ihren mädchenhaften Finger ein paar Mal quer über den Screen in der vordersten Reihe und erschafft so farbige Muster, Blasen und sich bewegende Strukturen.

      »Das sieht sehr schön aus«, kommentiere ich voller Bewunderung die violetten Farbverläufe.

      »Das ist leider eine Auffälligkeit dieser Welt. Das Böse verkleidet sich wunderschön, damit ihm die verzauberten Opfer in die Falle gehen.« Es gibt kein Gut und Böse, denke ich. Alles ist nur eine Frage der Interpretation. Eine Frage der Sichtweise aus der Brille des Betrachters. Ich denke an Halo. An seine perfekten Gesichtszüge und nicke, um Asha doch noch zuzustimmen, dann folge ich wieder aufmerksam ihren jüngsten Erkenntnissen.

      »Wie du hier sehen kannst, handelt es sich nicht um Bakterien oder Viren«, sagt sie und streicht einmal von hinten nach vorne über ihre kurzgeschorenen, violetten Stoppeln.

      Ich kann es nicht sehen, trotzdem nicke ich wieder. Asha projiziert