Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 4


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mir den Tank nochmal angesehen, bevor wir losgefahren sind. Irgendjemand hat da ein winziges Loch in den Tank gebohrt.«

      »Ein Loch? Ach du meine Güte, aber dann läuft doch das Benzin aus. Wer tut denn so etwas?«, fragt Reico empört und stemmt dabei ihre Hände in die Hüften.

      Stiff verdreht die Augen.

      »Jemand der wollte, dass wir uns verspäten und es nicht in der geplanten Zeit bis ins Zentrum von 4-City schaffen. Wir müssen mindestens noch eine, vielleicht auch zwei Nächte hier draußen verbringen. Hängt davon ab, ob wir unterwegs Schrottsammlern begegnen und uns verstecken müssen. Wenn alles gut geht, erreichen wir am Abend ein geschütztes Versorgungslager. Es ist eines von vielen, das wir Soldaten nutzen, falls wir länger außerhalb der Mauern unterwegs sind. Ich führe uns hin. Dort können wir uns ausruhen, etwas essen und die Nacht verbringen.«

      »Verstehe. Du bist ein guter Anführer«, ermutige ich Stiff und tatsächlich hellt sich sein Blick dadurch etwas auf. »Sag mal, weißt du, wer das mit dem Benzin getan hat? War es Absicht?«

      »Ja, davon ist auszugehen. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum die Flucht aus der Sektion der Steamborgs so einfach war. Ich habe mit viel mehr Widerstand gerechnet.«

      »Du meinst, sie haben uns absichtlich entkommen lassen?«

      »Kann gut sein. Vieles deutet darauf hin.«

      »Aber warum?«

      »Das ist eine gute Frage. Ich weiß leider keine Antwort darauf.«

      »Du hast einmal gesagt, dass Myo mit den Steamborgs unter einer Decke steckt. Vielleicht war sie es.«

      »Myo? Um Himmels willen!«, raunt Reico, die sich auch wieder in das Gespräch einbringt. Das war aber auch schon alles, was sie beizutragen hat, denn nun steht sie wie angewurzelt vor einem gewaltigen Gebäude und starrt sprachlos nach oben. Manchmal verhält sie sich sehr weise und intelligent. Meist aber auch einfach nur wie ein kleines Kind. Ihre ungezähmten Emotionsausbrüche miteingeschlossen.

      »Dann geht es also da lang zu dem geschützten Lager?«, frage ich und strecke meine Hand in die Richtung aus, in die wir bereits seit einer Ewigkeit laufen. Stiff schaut auf den Weg, der vor uns liegt. Anschließend nickt er.

      »Wie lange sagtest du, brauchen wir?«

      »Gegen Abend sind wir im Lager.«

      »Wird unterwegs etwas Aufregendes passieren?«

      Er reißt die Augen auf.

      »Das will ich nicht hoffen.«

      Die meiste Zeit sind wir leise und sprechen kaum. Wir passen die Lautstärke offensichtlich der Reisegeschwindigkeit an. Wenn man schnell unterwegs ist, darf man jede Menge Krach veranstalten. Wenn es langsam vorwärtsgeht, sollte man zusehen, nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Klingt logisch in Anbetracht dessen, dass wir uns in feindlichem Terrain befinden.

      Gegen Abend, also viele Stunden später, die sich wie ein halbes Jahrhundert anfühlen, erreichen wir den Ort, den Stiff gemeint hat. Es lohnt nicht, zu erzählen, was auf dem Weg hierher passiert ist. Die dunkelgraue Färbung des niedrigen Nebels, der durch die Häuserschluchten zieht, lässt uns erahnen, dass die Dämmerung wieder eingesetzt hat. Sie breitet sich über der Stadt aus, wie schwarze Tinte im Wasser. Wir betreten das Gebäude, das einmal eine Schule oder eine Universität gewesen sein könnte. Stiff führt uns durch Korridore, von denen viele Türen abgehen. Am Ende erreichen wir eine steile Treppe, die nach oben und unten führt. Wir folgen Stiff in den Keller, laufen erneut einen langen, langweiligen Gang entlang und kommen in einer trostlosen Sporthalle heraus, die jedoch erstaunlich gut erhalten ist. Der Zahn der Zeit hat hier bedeutend weniger Schaden angerichtet als an den Orten und Plätzen, wo der feuchte Nebel direkt Einfluss nimmt.

      »Eine Turnhalle«, jubelt Reico, schießt los, schlägt ein Rad, gefolgt von einem Flickflack und landet perfekt auf beiden Beinen. Ihre weichen Haare wippen über ihren Schultern nach und sie strahlt uns mit einem breiten Grinsen an.

      »Und das sind dann bestimmt die Schlafplätze«, stelle ich fest und deute auf ein Matratzenlager unter dem Basketballkorb am anderen Ende der Halle.

      »Es gibt frisches Wasser, Lebensmittelkonserven, eine Dusche und neue Kleidung, die angemessen ist für die Sektion der Menschen«, erklärt Stiff lächelnd und fährt sich verlegen über den Kopf. Er verhält sich wie jemand, der seinen Job gut gemacht hat.

      »Essen? Trinken? Duschen? Was anderes zum Anziehen? Du bist genial!«, freue ich mich über die perfekten Neuigkeiten. Meine Emotionen bereiten mir, in Momenten wie diesen, immer viel Freude. »Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen?«

      »Wo sind die Anziehsachen?«, fragt Reico.

      »Erst duschen, dann umziehen. Anschließend Nahrungsaufnahme«, befiehlt Stiff.

      »Könntest du mal den Besenstiel aus dem Popo nehmen«, meint Reico.

      »Was bedeutet das?«, frage ich.

      »Dass er sich total steif benimmt.« Ich finde das lustig, sage es aber nicht. Stiff hat uns gerade die Entscheidung abgenommen. Er ist schließlich der Anführer. Eigentlich hätte ich mich lieber zuerst fürs Essen entschieden, weil ich schon wieder ein riesiges Loch im Bauch verspüre, aber wenn man uns so anschaut und an uns riecht, dann wäre ein bisschen Körperpflege vor dem Essen durchaus sinnvoll.

      Ein paar Minuten später wissen wir auch, wo sich der Mädchenwaschraum befindet und laufen mit den neuen Kleidern unter dem Arm los. Zu Reicos und meiner Enttäuschung handelt es sich um so etwas wie eine graue, fantasielose Uniform.

      Der Waschraum ist eine Ansammlung von Spinden und Waschbecken. Dahinter befindet sich ein weiß gekachelter Raum mit sieben durchnummerierten Duschen. Reico und ich ziehen uns aus und stellen uns unter die Duschköpfe Nummer drei und vier.

      »Jetzt müsste es funktionieren«, hören wir Stiff von draußen rufen und wir drehen die Duschhähne gleichzeitig auf.

      »OH MEIN GOTT!«, kreische ich und mache einen Satz nach vorne. Das Wasser ist so kalt.

      Schlagartig sehe ich Bilder vor meinem inneren Auge aufsteigen. Wasser, das wütend auf mich niederprasselt. Es ist Regen. Echter, eiskalter Regen. Blitze durchzucken den Himmel. Windstöße peitschen mir ins Gesicht. Ein Gewitterspektakel. Es fühlt sich an, als wäre ich an einem anderen Ort. Ich sehe riesige Bäume und weit entfernt im Hintergrund schwarze, in den Himmel gepinselte Wolken, noch mehr Regen und eine grüne, weitläufige Landschaft. Dahinter schneebedeckte Berge. Ich laufe auf die Bäume zu und spüre das nasse Gras unter meinen nackten Füßen. Alles ist so realistisch. Das muss eine Erinnerung sein, kommt es mir in den Sinn. Plötzlich reißt der Himmel auf und die Strahlen der Sonne zeichnen wandelnde Schatten auf den Boden. Hinter den Bäumen sehe ich etwas glitzern und als ich näher komme, entpuppt es sich als riesige Glasfronten eines futuristischen Gebäudes. Es ist kaum zu erkennen, so gut passt es sich in die Umgebung ein. Hinter der Glasfront steht eine Frau. Was ist das für ein Ort? Wer ist sie?

      »Es ist eine Forschungseinrichtung. Deine Geburtsstätte und die Frau ist Aurora«, sagt die Stimme der Erinnerung in meinem Kopf. Ich laufe weiter darauf zu. Bin neugierig, was ich noch zu sehen bekomme und über mich erfahren werde, doch mit jedem Schritt verblasst die Erinnerung mehr und mehr und die Welt um mich herum nimmt wieder ganz andere Formen und Farben an. Statt Grün sehe ich nun Grau. Statt der unbestimmten, fließenden Formen der Blätter, Gräser und Bäume ist nun alles kantig.

      Ich befinde mich wieder im Hier und Jetzt und blicke in ein perplexes Gesicht.

      Stiff steht direkt vor mir. Er schaut mich mit unglaublich großen Augen und offen stehendem Mund an, so als wäre neben ihm gerade ein Kugelblitz eingeschlagen. Ich muss während meiner Erinnerungserfahrung wirklich einige Schritte gegangen sein. Ich stehe in dem Gang vor der Mädchenumkleide und höre weiter hinten Reico duschen.

      »Was ist mit dir los? Warum starrst du mich so an?«

      »Du bist nackt.«

      »Na und?«

      »Hat