Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 4


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irgendwie liebevoll, fühlt sich das richtig gut an.

      »Ich habe Erinnerungen. Und wenn ich die habe, dann passieren unkontrollierbare Dinge. Entweder laufe ich nackt durch die Gänge oder bewege mich gar nicht mehr, wie gerade eben«, versuche ich, Reicos Frage beflissentlich zu beantworten. Was ich ihnen nicht sage, ist, dass mir schon wieder schwindlig ist. Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen diesen Erlebnissen und den Schwächeanfällen?

      »Scheiße!«, stoßen Reico und Stiff gleichzeitig hervor.

      Die beiden schauen sich verwundert an.

      »Scheiße?«, frage ich.

      »Bald ist es soweit«, flüstert Reico geheimnisvoll.

      »Was ist bald soweit?«, fragen Stiff und ich nun unsererseits gleichzeitig und jetzt sind wir beide es, die sich verdutzt ansehen.

      »Dass ich dir erklären soll, was die Arche ist. Sie hat prophezeit, wenn du dich erinnerst, dann ist es soweit.«

      »Die Arche?«, wiederholt Stiff.

      »Sie? Wen meinst du mit sie?«, frage ich, wobei mich mindestens genauso sehr wie Stiff interessiert, was die Arche sein soll. Reico kann ja wohl unmöglich DIE ARCHE meinen.

      »Ich meinte bald und nicht jetzt. So, und warum hast du scheiße gesagt?«, wendet sich Reico an Stiff.

      »Ach nichts«, murmelt er nur und schickt sich an, aufzustehen.

      »Was ist denn hier los? Habt ihr jetzt etwa Geheimnisse? Stiff, bleib gefälligst hier und erklär mir, was daran so blöd ist, dass ich mich wieder erinnern kann?«

      »Nicht die Erinnerungen sind es, sondern die Nebenwirkungen! Was nützt uns eine biologische Waffe, die Funktionsstörungen hat?«

      »Funktionsstörungen? Du sprichst von mir, als wäre ich irgendein Ding. So wie dieser Kegel hier.«

      »Das bist du ja auch«, blökt er gereizt und tritt nun gegen einen der besagten Kegel, der daraufhin quer durch die Turnhalle kullert, bis er am anderen Ende liegen bleibt. Stiff marschiert davon.

      »Er ist sauer«, kommentiert Reico die Aktion.

      »Er hat mich verletzt«, sage ich.

      »Das heilt schon wieder«, meint Reico und betrachtet meine Beule.

      »Ich meine doch nicht diese Art von Verletzung.« Reicos Augen werden nochmal viel größer, als sie eh schon sind.

      Etwas später sitze ich in den Umkleideräumen, das zerrissene Tagebuch von Aurora auf den Knien und Stiffs Nachtsichtbrille über den Augen. Jetzt bin ich nicht nur ihren Worten, sondern Aurora auch leibhaftig begegnet. Es besteht nun Gewissheit, dass die Karma in Auroras Tagebuch und ich die gleiche Person sind. Ich lese ihre Einträge und versuche mich in ihren, teilweise recht wissenschaftlichen Ergüssen, zurechtzufinden.

      

      Kim und ich sind dem Geheimnis der Tattoos einen großen Schritt nähergekommen. Es handelt sich nicht nur um Kreise und Linien, also geometrische Formen, die der Unendlichkeit und Linearität entsprechen. Mit einer entsprechenden Auflösung und Vergrößerung entpuppen sich die Tattoos als Sprache. Es handelt sich um eine sehr alte Schrift, die sich Sanskrit nennt und mysteriöserweise der Sprache meines eigenen Tattoos entspricht. Kim und ich haben Millionen und Abermillionen von Zeichen entdeckt und es ist noch kein Ende in Sicht. Es wäre ein hoffnungsloser Fall, es lesen zu wollen, wäre da nicht die Logik, die wir hinter der scheinbar chaotischen Reihenfolge der Zeichen gefunden hätten. Alles was wir jetzt benötigen, ist ein Schlüssel, um den Code zu knacken. Dann, so bin ich überzeugt, könnten wir nicht nur ein Heilmittel finden, sondern alle Geheimnisse dieser Welt lösen.

      Ich betrachte meine Unterarme und starre auf die Linien und Kreise. Als Reico das Bannlevel Ebene drei aufgelöst hat, haben wirklich kleine Schriftzeichen aufgeleuchtet. Ich lese weiter und bin gespannt darauf, was Aurora und diese Kim noch über meine Tattoos herausgefunden haben. Haben sie den Schlüssel entdeckt, um den Code zu knacken?

      

       Karma und ich haben uns heute berührt und es ist etwas ganz Erstaunliches passiert. Mein eigenes und ein Teil ihrer Tattoos haben angefangen zu leuchten. Die Messungen des Energielevels lassen darauf schließen, dass sich eine Blockade aufgelöst hat. Kim nennt es das Stirnchakra, das für die Intuition steht. Es scheint, es gibt Menschen wie mich, die etwas in Karma auslösen, wenn sie mit ihr in Kontakt kommen. Die Krankheit hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Mein Tattoo bedeutet auf Sanskrit Ajna, was für Intuition steht. Jemand mit besonderen Fähigkeiten. Vielleicht gehören wir alle irgendwie zusammen. Sind alle Teil von etwas Größerem. Es wäre einen Versuch wert, das herauszufinden. Kim nennt es die Eternityschlüssel. Es existieren sieben Hauptchakren. Kim meint, es wären sechs Schlüssel erforderlich. Die ersten fünf stehen für die Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, der sechste für Intuition und dann würde sich das siebte Energiezentrum öffnen und das Tor zur Ewigkeit, zur Unendlichkeit, zum Einssein mit Gott aufstoßen.

       Wenn ich den Schlüssel für das sechste Chakra in mir trage und über eine besondere Fähigkeit verfüge, nämlich in die Zukunft zu blicken, dann würde es bedeuten, wir müssen Menschen suchen, die mir ähneln. Sie würden Fähigkeiten haben, die den anderen Elementen entsprechen. Die Suche nach ihnen könnte sich als schwieriger erweisen, als die Zahl Pi zu entschlüsseln. Eventuell sind diese Menschen auch noch gar nicht geboren. Oder anders ausgedrückt, die Krankheit hat sie noch nicht erschaffen.

       Wir haben viel über die Krankheit herausgefunden. Sie verändert das Energiefeld des Menschen. Für die meisten endet dies tödlich. Ein Kollaps, ein völliges Ungleichgewicht entsteht und löst Infektionen aus oder führt in vielen Fällen sogar unmittelbar zum Tod. Kim meint, dass der Faden, der Seele und Körper zusammenhält, nichts weiter ist als Energie und dieses empfindliche System durch die Krankheit massiv gestört wird. Wird der Faden durchtrennt, dann löst sich die Seele vom Körper und lässt ihn zurück. Wir bezeichnen das als Tod. Eine schöne Vorstellung, dass man nicht der Körper ist, sondern ihn lediglich zurücklässt.

      Ich versinke in Auroras Aufzeichnungen und auch wenn ich nicht alles verstehe, bin ich ihren Erkenntnissen doch auf der Spur.

      »Was tust du da?«, fragt Reico, die plötzlich neben mir steht. Ihre künstlichen Augen leuchten in der Dunkelheit auf.

      »Das ist Auroras Tagebuch. Es ist nicht sonderlich dick und ich habe nur noch die Hälfte, aber es ist sehr interessant.«

      »Erzähl!«

      Ich berichte über die sieben Energiezentren und ihre Eigenschaften. Reico nickt, als würde sie wissen, wovon ich spreche.

      »Kannst du mir mehr darüber sagen?«

      »Alles zu seiner Zeit.«

      »Hast du schon mal etwas von den Eternityschlüsseln gehört?«, frage ich sie und versuche in ihrer Mimik zu lesen. Leider gelingt es mir nicht annähernd so gut wie bei Stiff. Er ist wie ein offenes Buch für mich. Ich kann die Emotionen aus den Mikroexpressionen in seinem Gesicht, seiner Körperhaltung, seiner Gestik und der Tonlage seiner Stimme entnehmen. Ich entschlüssle ihn sozusagen. Bei Reico kann ich überhaupt nichts lesen, obwohl sie diejenige von uns ist, welche über die meisten Emotionen zu verfügen scheint.

      

      Verfolgt

      Wir haben das Lager früh am Morgen wieder verlassen. Der Smog hat uns wie immer empfangen. Er ist ein ständiger Begleiter. Es weht so gut wie kein Wind zwischen den Häuserblocks und der Dunst hängt noch dichter über 4-City als sonst.

      4-City?

      Die Stadt sollte besser in Steam-City umgetauft werden.

      Die Stimmung ist getrübt. Stiff und ich