Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 4


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hat aber auch so seine Vorteile. Ich hatte viel Zeit, in die Tiefen meines Bewusstseins abzusinken und über das Erlebnis von gestern Abend nachzudenken. Plötzlich wurde die Vergangenheit zur Gegenwart. Entgegen jeder Absicht sah ich mich in jenem Moment unter der Dusche plötzlich im Regen auf einer Wiese, zwischen Bäumen vor Aurora und der Forschungseinrichtung wieder. Der Forschungseinrichtung, in welcher ich erschaffen wurde. Als wären 200 Lebensjahre einfach getilgt. Als hätten sich die ganzen landschaftlichen Eindrücke von damals entfaltet. Es fühlte sich nach mehr, als nur nach einer Erinnerung an. So als wäre ich leibhaftig wieder dort gewesen. Es war, als hätte mein Körper auf die direkten Sinnesreize des kalten Wasser in der Dusche, mit einer Reise in die Vergangenheit reagiert und mein Bewusstsein im Schlepptau hinter sich hergezogen.

      Es gab gestern keinen Wald und Regen oder sonst etwas. Es gab nur Stiff, vor dem ich splitterfasernackt wieder erwacht bin und der mich als ein Ding mit Funktionsstörung bezeichnet hat.

      Der Geruch des Waldes und des Regens waren mir vertraut. Mein Leben wurde anscheinend deutlich geprägt durch die, über 200 Jahre zurückliegenden Erfahrungen an jenem Ort. Die Erinnerung versorgte mich mit dem Gefühl von Heimat. Ein wohliges Urvertrauen, das in meiner Brust aufglühte.

      Es war ein Ort, der in den Tiefen meines Gedächtnispalastes verschwunden gewesen zu sein schien. Und die Kälte des Wassers unter der Dusche war wie ein Schlüssel, der in ein Schloss dieses Palastes passte und eine Tür zu meiner Vergangenheit und meiner eigenen Identität geöffnet hat.

      Auf einmal stiegen aus den Tiefen unglaubliche Details auf – und ich kann nicht ergründen, woher sie gekommen sind. Es war ein rätselhafter und magischer Moment.

      Ich fasse zusammen: Diese Erinnerung war wie ein Zugang zu meiner persönlichen Identität. Sie hat etwas in mir verändert. Ich fühle mich nun anders. Verbundener mit mir selbst. Ich frage mich: Sind wir letztlich nichts anderes als Erinnerungen?

      Erst am Nachmittag passiert wieder etwas, das mich aus meiner Gedankenwelt in die reale Welt zurückholt.

      »Was sind das für Geräusche?«, frage ich. »Oh, jetzt habe ich gesprochen. Eigentlich wollte ich, dass du den Anfang machst«, ergänze ich und schaue Stiff an.

      »Warum sollte ich?«

      »Weil ich eine Entschuldigung erwarte.«

      Reico steht neben uns und schaut immer denjenigen an, der gerade spricht. Es sieht lustig aus.

      »Für was soll ich mich denn entschuldigen?«

      »Das musst du selbst herausfinden!«

      »Keine Ahnung, was mit dir los ist«, brummt Stiff.

      »Und was sind das nun für Geräusche?«, bohrt Reico nach.

      »Das kommt aus dem Zentrum. Das sind die Menschen«, antwortet Stiff.

      »Sind wir bald da?«

      »Leider nein. Wenn wir Glück haben, erreichen wir heute die Mauer und werden diese umrunden, bis wir beim geheimen Eingang ankommen.«

      »Die Menschen im Zentrum müssen sehr laut sein, wenn man sie jetzt schon hören kann.« Ich lausche dem leisen Wum Wum Wum.

      »Das ist der Bass, den wir hören. Es ist die Musik der Tejas. Separatisten. Niemand kann so laut schreien.«

      »Musik«, flüstere ich. »Die Tejas müssen taub auf den Ohren sein.«

      Stiff muss lachen und gibt nilpferdartige Grunzlaute von sich. Irgendwie finde ich das süß.

      »Was ist so komisch?«

      »Die Tejas sind nicht taub. Sie leiten die Musik über das Röhrensystem der alten Wasserleitungen bis hierher in die Stadt.«

      »Warum tun sie das? Und warum nennen sie sich so? Tejas? Auf Sanskrit ist das das Wort für Feuer. Was hat das zu bedeuten?«

      »Die Tejas sind die Treulosen, weil sie sich von der Regierung abgewandt haben. Sie werden von uns wegen Verrat an den Regeln der Gesellschaft verfolgt und zur Rechenschaft gezogen. Es ist außerdem verboten, diese Art von Musik zu hören. Wir vermuten, dass sie die Musik in die Stadt leiten, damit sie Verbündete finden.«

      »Verrat kenne ich aus dem Nibelungenlied und von Shakespeare und Julius Cäsar. In vielen Büchern ist der Verrat ein Thema.«

      »Hast du schon mal einen Tejas gesehen?«, fragt Reico.

      »Viele!«

      »Er lügt!«, sage ich. Stiff schaut mich erstaunt an. »Deine Mikroexpressionen deuten darauf hin.«

      »Okay, ich habe noch keinen gesehen.«

      »Warum glaubst du dann, dass sie böse sind?«

      »Weil die Regierung es verkündet.«

      »Nimmst du alles an, was die Regierung bestimmt?«

      »Weißt du, was ich glaube? Dieses Gespräch führt uns nirgendwo hin.«

      »Warum hast du uns angelogen?«

      »Keine Ahnung.«

      »Kann es sein, dass du an der Aussage der Regierung zweifelst und deshalb gelogen hast?«

      »Können wir das Thema wechseln?«, fragt Stiff verzweifelt.

      »Natürlich«, applaudiert Reico. »Wenn dir das Kreuzverhör unangenehm wird, dann wechseln wir eben das Thema.«

      »Hast du schon mal getanzt?«, will er von mir wissen.

      Ich schüttle den Kopf, weil ich mich nicht daran erinnern kann.

      »Vielleicht«, antworte ich mit gedämpfter Stimme »Ich habe da so ein Problem mit meinem Gedächtnis.«

      »Erinnern und Gedächtnis ist nicht das gleiche«, weiß Reico und ich schaue sie überrascht an.

      »Was ist mit dir?«, wendet er sich an Reico.

      »Ja, sie kann tanzen«, antwortet sie und mein Kopf schnellt wieder von Stiff zu ihr. Ich starre sie an. »Ups«, piepst Reico.

      »Du weißt, dass ich schon einmal getanzt habe?«, bohre ich nach und meine Stimme überschlägt sich fast. Natürlich. Warum bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen. Reico kennt mich. Vielleicht ist sie schon sehr lange an meiner Seite. Was weiß sie alles über mich? Sie könnte mir etwas über mich erzählen. Vielleicht kann sie mir sagen wer ich bin, was ich alles getan und erlebt habe. Sie ist eine Synth. Sie hat bestimmt ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen. Einen integrierten Speicher, der nichts vergisst.

      »Du weißt, dass ich getanzt habe?«, frage ich erneut, weil Reico mindestens genauso überrascht zu sein scheint wie ich selbst.

      »Ja. Das ist aber lange her.«

      »Wie lange?«

      »Es war im Sommer ...«, beginnt sie und verstummt. »Sommer im Jahr 2046.«

      »Das sind über zweihundert Jahre«, mischt sich Stiff ein.

      Ich stehe nun direkt vor Reico.

      »Was schaust du mich so an?«, fragt sie mit großen Augen.

      »Das ist doch klar. Erzähl mir mehr. Erzähl mir alles!«

      »Das ist alles. Wir haben getanzt. Mehr weiß ich nicht. Die Erinnerung war plötzlich da und jetzt ist sie wieder weg. So einfach ist das«, murrt Reico, als wäre es die unbedeutendste Nebensächlichkeit der Welt. Leider kann ich aus ihrem Gesicht nicht ablesen, ob sie mich gerade anschwindelt oder die Wahrheit spricht.

      »Wir? Du und ich?«, platzt es plötzlich aus mir heraus, als ich mir ihre Worte nochmal durch den Kopf gehen lasse.

      Stiff steht bei uns und beobachtet, wie ich von Sekunde zu Sekunde unruhiger werde und wie Reico im Gegensatz zu mir schon wieder im Hier und Jetzt angekommen ist.

      »Ja wir haben getanzt«, sagt sie beiläufig. »Können wir jetzt wieder weitergehen? Meine Beine wollen sich bewegen«, meint sie und wendet sich an