Irene Dorfner

Der Tote im Wald


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aus. Unrasiert, die kurzen, ergrauten Haare in alle Himmelsrichtung stehend, wirkte er ungepflegt. Dazu hatte er die letzten Tage wenig gegessen und war noch magerer geworden. Nachdem er ausgiebig geduscht und sich angezogen hatte, besah er sich abermals im Spiegel. Geht doch! Sieht doch gar nicht so schlecht aus. Wie immer trug er Jeans, Hemd oder T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, seine alte Lederjacke und dazu seine geliebten Cowboystiefel. Er trug dieses Outfit schon seit über dreißig Jahren und war sich sicher, dass er trotz seiner 49 Jahre immer noch viel besser aussah, als viele seiner Altersgenossen.

      Auf dem Weg in den Frühstücksraum dachte er darüber nach, dass es nicht üblich war, in seinem Alter nochmals von vorn anzufangen. Hatte er eine andere Wahl? Nein, schließlich hatte er Mist gebaut und musste jetzt die Konsequenzen tragen.

      Die freundliche Angestellte im Frühstücksraum riss ihn aus seinen Gedanken. Zum Glück, denn sonst wäre er doch noch in ein tiefes Loch gefallen. So weit kommt es noch! Er bekam hier in Mühldorf eine neue Chance und darüber sollte er sich vielleicht endlich auch mal freuen. Trotz des reichhaltigen Frühstücksangebotes wählte er nur einen starken Kaffee und machte sich dann auf den Weg.

      Trotz der gegensätzlichen Ansage seines Navi-Gerätes, das ihn immer mehr nervte, entschied er, wahllos durch Mühldorf zu fahren und sich den Ort etwas genauer anzusehen, schließlich war er viel zu früh dran. Wie würde es aussehen, wenn er an seinem ersten Arbeitstag zwei Stunden zu früh zur Arbeit erschien?

      Leo fuhr durch das verschlafene Städtchen, das mehr und mehr zum Leben erwachte. Eigentlich gar nicht mal so schlecht, was er da sah. Trotzdem war er der neuen Heimat gegenüber noch sehr negativ eingestellt. Er beschloss, Mühldorf wenigstens eine Chance zu geben.

      Ihm war mulmig zumute, als er schließlich dem Drängen des Navi-Gerätes nachgab und die Polizeiinspektion Mühldorf nun ohne weitere Umwege ansteuerte. Er parkte seinen Wagen vor dem beeindruckenden Gebäude, stieg aus und zögerte einen Moment. Er atmete mehrmals tief durch, bevor er entschlossen auf den Eingang zuging und sich dabei immer wieder gut zuredete. Wie würden ihn die Kollegen und vor allem der neue Vorgesetzte aufnehmen? Schließlich brachte er durch den letzten Vorfall in Ulm, durch den er strafversetzt und rangmäßig zurückgestuft wurde, nicht gerade die besten Referenzen mit. Zudem war er nicht von hier aus der Gegend, noch nicht einmal aus Bayern. Kam er mit dem hiesigen Dialekt zurecht? Und wie würden die Menschen mit ihm umgehen, denn sein schwäbischer Dialekt war nicht zu verbergen? Er wischte die Bedenken beiseite und wies sich dem Mann am Empfang aus. Der begrüßte ihn monoton und beschrieb ihm den Weg in bayrischem Dialekt. Leo hatte kein Wort verstanden. Das ging ja schon gut los! Er nickte trotzdem und fragte sich durch, bis er schließlich an der Tür des Polizeichefs stand, auf dem der Name KROHMER stand. Noch einmal atmete er tief durch und klopfte. Statt einer Aufforderung, einzutreten, wurde ihm persönlich geöffnet.

      „Sie wünschen?“, fragte der Mann freundlich, was Leo nun sehr überraschte, denn die Personen, denen er bisher begegnete, waren ihm gegenüber sehr knapp angebunden, um nicht zu sagen ruppig.

      „Leo Schwartz. Ich suche einen Herrn Krohmer.“

      „Rudolf Krohmer persönlich und in voller Pracht. Treten Sie ein Herr Schwartz, ich habe Sie noch nicht so früh erwartet. Arbeitsbeginn bei der Kripo ist um 8.00 Uhr, Sie sind eine halbe Stunde zu früh.“

      Rudolf Krohmer war 58 Jahre alt, schlank, und auf den ersten Blick schien er sehr freundlich zu sein. Ganz im Gegensatz zu Leos Vorgesetzten in Ulm, der meist mürrisch und sehr kurz angebunden war; trotzdem vermisste er ihn.

      „Ich wollte mich vor Arbeitsantritt in Mühldorf noch etwas umsehen und bin herumgefahren.“

      „Ja, warum auch nicht. Kommen Sie bitte in mein Büro,“ sagte Krohmer und sah dabei auf die Uhr. „Wie war die Fahrt?“

      „Einigermaßen.“

      „Sie haben vorerst eine Unterkunft gefunden? Wir können Ihnen gerne dabei behilflich sein.“

      „Ich bin versorgt, machen Sie sich um mich keine Sorgen.“

      „Wollen wir offen sprechen, Herr Schwartz. Wie Sie sich vorstellen können, hat mich Ihre Geschichte überrascht. Normalerweise finden Sie damit keinen vernünftigen Job mehr, vor allem nicht bei einer Mordkommission. Ihr vorheriger Chef Herr Zeitler hat mich bekniet, Ihnen eine Chance zu geben. Ich halte sehr viel von Zeitler. Wenn er Sie empfiehlt und sich für Sie einsetzt, müssen Sie etwas auf dem Kasten haben. Trotzdem möchte ich einiges klarstellen: Bei uns wird sauber gearbeitet. Ich dulde keine Spielchen und keine Alleingänge. Haben wir uns verstanden?“

      „Ja.“ Leo war erschrocken. Zum einen von Krohmers direkten Art und zum anderen von der Tatsache, dass sich Zeitler so stark für ihn eingesetzt hatte.

      „Und jetzt: Schwamm drüber! Ihre Vorgeschichte ist für mich geklärt und ab jetzt schauen Sie bitte nur noch nach vorn. Gibt es noch Fragen?“

      „Vorerst nicht.“

      „Ich hätte ihnen gerne persönlich alles gezeigt und Sie den Kollegen vorgestellt, aber leider habe ich wegen eines auswärtigen Termins keine Zeit mehr für Sie. Meine Sekretärin wird sich um Sie kümmern. Frau Gutbrod?“, rief er in das Nebenzimmer, worauf umgehend eine 60-Jährige, sehr schlanke und für Leos Begriffe für ihr Alter zu modisch gekleidete Frau mit üppigem Schmuck und einem Ungetüm an Frisur ins Zimmer trat.

      „Sie wünschen, Chef?“

      „Das hier ist Herr Schwartz, unser neuer Mitarbeiter bei der Mordkommission. Zeigen Sie ihm bitte alles. Vor allem braucht er seinen Dienstausweis, das Dienst-Handy und natürlich seine Dienstwaffe.“

      „Natürlich, es ist mir ein Vergnügen,“ rief Frau Gutbrod viel zu laut und zu schrill. Sie hatte die Akte des neuen Mitarbeiters bereits eingehend studiert und wusste Bescheid. „Ich bin Hilde Gutbrod, die Sekretärin und gute Seele des Präsidiums. Ich habe Sie bereits schon auf dem Parkplatz gesehen, als ich zufällig aus dem Fenster gesehen habe. Wie ich an Ihrem Nummernschild ersehen konnte, kommen Sie aus Ulm? Eine herrliche Stadt, da war ich auch schon, das ist aber Jahre her. Herzlich willkommen bei uns! Was wollen Sie zuerst sehen, Herr Schwartz? Ach wissen Sie was, kommen Sie doch einfach mit. Wenn Sie Fragen haben, dann keine Hemmungen.“

      Leo war sofort klar, mit wem er es zu tun hatte: Frau Gutbrod wusste alles, kannte jeden, war sehr geschwätzig, tratschte gerne, und war mit Sicherheit überaus neugierig. Eine Person, mit der er sich gutstellen musste. Er hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen auch unangenehm werden können, vor allem, wenn man sie als Gegner hatte. Aber sie war freundlich und er verstand sie trotz ihres bayrischen Dialektes sehr gut. Frau Gutbrod zeigte ihm das ganze Gebäude und sämtliche Abteilungen, und er wurde jedem einzelnen Kollegen und jeder einzelnen Kollegin vorgestellt. Leo bemühte sich, sich die Namen zu merken, gab aber irgendwann auf, denn das war nicht möglich. Der Polizeiapparat entpuppte sich als sehr umfangreich. Leider dachte er erst jetzt darüber nach, dass es vielleicht intelligent gewesen wäre, sich vorab über die hiesige Polizei zu informieren. Das hatte er leider versäumt, da die Versetzung hierher sehr kurzfristig kam und er in Ulm die letzten Tage noch sehr viel zu tun hatte. Aber das waren nur Ausflüchte und Entschuldigungen, die eigentlich nicht galten, denn die Informationen über die hiesige Polizei, sprich seinen neuen Arbeitgeber, hätten keine Stunde gedauert und diese Zeit hätte er investieren müssen. Jetzt schämte er sich dafür und während Frau Gutbrod weiter auf ihn einplapperte, entschied er, ihr nicht mehr zuzuhören. Er sagte nichts mehr und sie schien mit einem gelegentlichen Nicken oder Lächeln durchaus zufrieden. Stattdessen dachte er mit Wehmut an seine Arbeitsstelle in Ulm und an die Freunde und Kollegen, die er schmerzlich vermisste. Wie sie über ihn dachten, wie er gestern von der Abschiedsfeier einfach abgehauen war? Er hoffte, dass sie ihn irgendwie verstehen und vergeben konnten. Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, denn nun bekam er seine Dienstwaffe, sein Handy und auch seinen Ausweis ausgehändigt, was alles bereits für ihn hinterlegt wurde und er nur noch quittieren musste.

      „Und hier sind wir schlussendlich in Ihrer neuen Wirkungsstätte angekommen. Das sind Ihre neuen Kollegen der Kripo: Leute, bitte alle herhören!“, rief sie in das nun letzte Büro, in das er von Hilde Gutbrod geführt wurde und