Irene Dorfner

Der Tote im Wald


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wurden drei Fahrräder gefunden, das Ihres Kollegen war nicht dabei. Die, die wir fanden, sind mindestens dreißig Jahre alt.“

      Leo rief nun alle Zeugen an, die sich im Zusammenhang mit dem Verschwinden Binders gemeldet hatten. Er zeichnete die Angaben in seine Karte. Nun gab es nur noch die Eltern und die Verlobte. Er zögerte. Sollte er auch sie anrufen? Bislang hatten ihn die Kollegen nicht zurückgehalten; er wählte die erste Nummer. Die Eltern hatten keine neuen Informationen, trotzdem stellte Leo seine Fragen wieder und wieder. Das Gespräch mit der Verlobten war sehr schwierig. Sie weinte sofort, als sie begriff, dass er sich für das Verschwinden ihres Verlobten interessierte. Freimütig gab sie Auskunft. Und auch ihre Angaben übertrug er in seinen Plan.

      Leo sah sich lange seinen Plan an, der über und über markiert und vollgekritzelt war. Scheinbar wahllos waren Strecken, Kreuze und verschiedene Uhrzeiten vermerkt. Die anderen hatten ihn beobachtet und dabei zugesehen, wie sich der ordentliche, saubere Schreibtisch innerhalb kürzester Zeit in ein Chaos verwandelte. Was machte der Neue?

      „Kommen Sie bitte,“ sagte Leo schließlich, nachdem er für sich ein Resümee gezogen hatte. Die Kollegen blickten auf die stümperhaft gestückelte Karte, auf der der Kastler Forst kaum mehr zu erkennen war. Was sollte das? „Das ist eine Karte des Kastler Forsts. In diese Karte habe ich die teilweise widersprüchlichen Aussagen der Zeugen, der Familie und der Verlobten eingetragen. Ich für meinen Teil gehe davon aus, dass Binder hier,“ und dabei zog er mit Leuchtstift einen Kreis, „verschwunden sein muss. Das Gebiet, das durchsucht wurde, überschneidet sich nur in diesem kleinen Bereich. Offensichtlich hat man sich zu sehr auf die Aussage eines Zeugen verlassen und hat sich auf dieses Gebiet konzentriert. Nimmt man aber die anderen Aussagen, auch die des Försters und der Familie, wozu ich auch die Verlobte zähle, muss Binder hier verschwunden sein.“

      Viktoria war sauer. Sie hatte die Durchsuchung des Waldgebietes angeordnet. Lag sie damit falsch?

      „Der Zeuge Eberling war sich sicher, dass er Binder dort gesehen hat. Dagegen schienen sich die anderen nicht so sicher,“ versuchte sie sich zu verteidigen.

      „Das soll kein Vorwurf sein Frau Untermaier,“ sagte Leo. „Ich nehme an, ich sollte mir die Akte unvoreingenommen vornehmen, sozusagen als Außenstehender, das habe ich getan. Ich habe mit allen Zeugen gesprochen und mir Gedanken gemacht. Und das ist mein Ergebnis, das nicht unbedingt richtig sein muss.“

      Werner und Hans waren skeptisch. Auch sie hatten mit allen Zeugen gesprochen und hatten sich wieder und wieder mit dem Verschwinden Binders beschäftigt. Konnte es sein, dass sie im falschen Gebiet gesucht hatten?

      2.

      Es klopfte und Hilde Gutbrod trat mit einem Mann ins Büro.

      „Leute, hier ist ein Herr Schuster aus Kastl. Herr Schuster, die Kollegen hier werden sich um Sie kümmern.“

      „Bitte treten Sie ein und setzen Sie sich. Was können wir für Sie tun?“ Viktoria Untermaier war sofort aufgesprungen, denn wenn eine Person zu ihnen gebracht wurde, war es sehr ernst. Der 58-jährige Horst Schuster trug Arbeitskleidung und hielt seinen Hut in der Hand. Er war schüchtern und augenscheinlich sehr nervös.

      „Bei Waldarbeiten im Kastler Forst haben wir in einer Höhle einen Sarg gefunden. Ich war schon bei der Polizei in Altötting, aber die haben gesagt, dass sie nicht zuständig sind und haben mich hier hergeschickt. Bitte kommen Sie mit und sehen Sie sich das an. Wir haben nicht in den Sarg reingeguckt. Aber wir sind sicher, dass da einer drin liegt.“ Er sprach sehr leise, bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen, was aber gründlich in die Hosen ging. Leo als Schwabe hatte trotzdem alles verstanden. Er stand neben Horst Schuster, ebenso wie die anderen beiden Kollegen und alle hörten fassungslos zu.

      „Sie haben also einen Sarg mitten im Wald gefunden. Soweit habe ich Sie richtig verstanden?“ Leo hakte nach. Hatte er sich nicht erst in den letzten Stunden mit diesem Kastler Forst beschäftigt? Und jetzt das!

      Der Mann nickte.

      „Wie kommen Sie darauf, dass in dem Sarg einer drin liegt?“

      „Die Kerzen und die Blumen drum herum. Da liegt bestimmt einer drin. Wer macht sich sonst solche Mühe. Sie müssen sich das ansehen.“

      „Natürlich sehen wir uns das an. Wo ist der Fundort?“

      „Deshalb habe ich nicht angerufen und bin persönlich hier, um Sie hinzuführen. Von alleine finden Sie dort niemals hin. Das ist mitten im Wald, wenn man sich dort nicht auskennt, kann das in die Hosen gehen.“

      „Das kann ich mir denken. Im Kastler Forst kann man sich weiß Gott verlaufen. Gut. Herr Schwartz, Sie fahren mit Hiebler. Herr Schuster, Sie fahren mit mir – Grössert, Sie bleiben hier. Informieren Sie die Spurensicherung, die sollen sich uns unverzüglich anschließen.“

      Nach zehn Minuten ging es los, sie fuhren im Konvoi. Leo sah seinen neuen Wirkungskreis bei Tageslicht. Sie fuhren durch Weiding und die nächste Ortschaft Teising; von beiden hatte er noch nie gehört. Die Wallfahrtsstadt Altötting, die er von einem früheren Fall ziemlich gut kannte, ließen sie nach wenigen Kilometern rechts liegen. Die ländliche Gegend zog sich. Sie bogen von der Bundesstraße Richtung Burghausen/Burgkirchen ab.

      „Wie weit ist es denn noch? Wie heißt der Ort noch gleich?“

      „Kastl heißt der Ort. Ein kleines 2000 Seelen-Dorf, das in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Industriewerke stark gewachsen ist. Keine Sorge, wir haben es gleich geschafft.“ Hans Hiebler musste schmunzeln. Ihm war der Neue sympathisch. Er spürte, dass es mit ihm keine Probleme geben würde, seine Menschenkenntnis hatte ihn noch nie getäuscht. Während der Fahrt hatte der Neue staunend aus dem Fenster gesehen und hatte sich die Umgebung angesehen. Ja, Hans Hiebler war hier geboren und aufgewachsen. Er liebte seine Heimat und würde niemals freiwillig von hier weggehen. Warum auch? Was hatte dieser Schwartz angestellt, dass er nach Mühldorf versetzt wurde? Er würde es herausfinden.

      Hans nahm die zweite Abfahrt. Sie fuhren durch den kleinen Ort Kastl Richtung Bahnhof und bogen nach diesem links ab unter einer Bahnbrücke durch und waren nun direkt im Wald. Leo versuchte, sich den Weg zu merken. Er konnte nach dem Bahnhof, vorbei an einem Besucher-Parkplatz zu Beginn des Waldes auch noch prima folgen, denn sein Orientierungssinn war grundsätzlich hervorragend und er hatte auch noch die Karte im Hinterkopf. Aber nach einigen Abzweigungen mitten im Wald sah für ihn alles gleich aus.

      Endlich hatten sie die Stelle erreicht, bei der fünf Waldarbeiter warteten. Sie stiegen allesamt aus, begrüßten sich kurz und die Polizisten zogen Gummistiefel an, die im Kofferraum der Fahrzeuge verstaut waren. Natürlich hatte Leo keine dieser Stiefel dabei und sah ziemlich dumm aus der Wäsche.

      „Denken Sie sich nichts Herr Schwartz. Ihren alten Stiefeln wird der Dreck nicht schaden, die sind eh schon ziemlich hinüber,“ bemerkte Viktoria Untermaier. Leo besah sich verwundert seine Stiefel. Was soll mit denen sein? Die sind doch noch keine fünf Jahre alt und noch völlig in Ordnung.

      Sie folgten Horst Schuster, der ungeduldig gewartet hatte und nun die Polizisten an die betreffende Stelle führte. Sie stiegen über Äste und Büsche immer tiefer in den Wald, bis sie schließlich an eine Stelle kamen, an der Horst Schuster lange Äste und Büsche zur Seite hob und somit den Eingang zu einer Art Höhle freigab.

      „Dort drin ist es,“ sagte er knapp, wobei er keine Anstalten machte, mit in die Höhle zu gehen.

      „Eine Höhle?“ Leo wunderte sich. „Hab ich da etwas nicht mitbekommen? Ich dachte, der Sarg steht mitten im Wald.“

      „Wundert mich auch,“ sagte Hans und ging voran.

      Die Polizisten zogen die Köpfe ein, schalteten ihre Taschenlampen ein und gingen vorsichtig hinein, wobei Viktoria Untermaier voranging. Die Frau war wirklich taff. Der Weg war schmal, niedrig, aber einigermaßen sauber. Keine Äste, Wurzeln oder Ähnliches erschwerte ihnen das Gehen. Nach einigen Metern geradeaus ging ein Seitenweg nach rechts weg und dort stand tatsächlich ein Sarg. Der sah wirklich nicht so aus, als würde er da