Thomas Jütte

Steinige Jagd


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Korhonen. Na, wenn das nicht eine Überraschung ist", begrüßte Santu den Ankömmling. „Zufälle gibt's, die gibt's gar nicht."

      „Guten Tag Herr... Claus, war doch richtig, oder? Nun ja, es freut mich wirklich, Sie zu sehen. Und guten Tag Rumpeli. Ich bin wirklich entzückt."

      „Rooperti", antwortete Rooperti. „Sie dürfen aber auch Herr Rooperti zu mir sagen."

      Santu grollte: Weiß mein Knecht denn niemals, wann Schluss ist?

      „Ja denn, Herr Rooperti, wie es beliebt", und wandte sich wieder dessem Vorgesetzten zu: „Sie wissen doch, es gibt keine Zufälle im Leben."

      Da ihr Abschied aus der Kirche des Heiligen Nikolaus so überstürtzt gewesen wäre, hätte er gar keine Zeit mehr gehabt, ihnen zu verraten, dass Demre, also Myra, nur ein Zwischenstopp auf seinem Weg nach Istanbul war, wo er beruflich zu tun hätte. Und im "Sultanahmet fishhouse" würden sich früher oder später alle einfinden, die einen guten Fisch zu schätzen wüssten.

      „Komisch", wunderte er sich, „aber dann hätten wir uns eigentlich bereits im Flugzeug sehen müssen." Nun, wie es auch sei, er würde sich freuen, wenn er ihnen an ihrem Tisch Gesellschaft leisten dürfte.

      „Nein, danke", lehnte Rooperti kurz angebundenn ab.

      „Sehr gern", stimmte Santu jovial aber unmissverständlich zu, und wies auf den freien Stuhl.

      Missmutig beobachtete Rooperti, wie der Professor seinen Schirm neben seinem an die Stuhllehne hängte und Platz nahm.

      Schon wieder einer dieser verdammten Zufälle, konstatierte Claus für sich: Zwei Stockschirme der gleichen, teuren Marke.

      Nachdem der Kellner ihnen die bestellten Getränke kredenzt und ihre Essenswünsche auf den Weg gebracht hatte, wollte Professor Kohonen nun aber Genaueres über den Zweck ihrer Istanbul-Visite erfahren.

      Um möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben - das beste Mittel übrigens, um nicht so leicht beim Lügen ertappt zu werden -, verriet Santu ihm, dass sie auf der Suche nach einem rätselhaften Relief seien, einer Grabbeigabe für den Heiligen Nikolaus, mit der Absicht, hinter das Geheimnis der Inschrift zu kommen.

      „Interessant, interessant. Ja, diese Steintafel kenne ich. Die durfte ich sogar selbst schon einmal in Augenschein nehmen", antwortete der Professor.

      Santu warf kurz einen bedeutungsvollen Blick in Richtung Rooperti, dessen ganze Konzentration aber einem Holzsplitter galt, den er sich irgendwo und irgendwann in die Handfläche getrieben hatte. Man musste halt Prioritäten setzen.

      „Entziffert hat die Inschriften noch niemand, da die zuständigen Experten das Relief für recht bedeutungslos halten. Wobei ich persönlich da aber anderer Meinung bin", fuhr Korhonen mit gewichtiger Miene fort.

      „Man hält es sogar für derart nebensächlich, dass es zwar in der Schatzkammer im Topkapi gelagert wird, aber meines Wissens noch nie Verwendung für eine Ausstellung fand."

      „Schatzkammer? Topkapi? Nicht ausgestellt?", wiederholte Santu monoton, wie in einem trance-ähnlichen Zustand kognitiver Unfähigkeit.

      „Wie darf ich mir das vorstellen? Befindet sich die Tafel dort etwa in einer Schublade, oder steht sie einfach auf dem Boden herum? Vielleicht dient sie heute sogar nur als zeitgenössische Unterlage für ein Ausstellungsstück?"

      „Mitnichten, mitnichten, mein Bester. Sie fristet ihr Dasein, wenn ich das einmal so salopp formulieren darf, im hintersten Teil des dritten Saals der Schatzkammer. Dort befindet sich ein Tresor, in dem allerlei Artefakte deponiert werden, die größtenteils für spätere Ausstellungen in der Schatzkammer vorgesehen sind", erklärte der Professor.

      "Woher wissen Sie das eigentlich so genau, Herr Professor?" Santu war sichtlich beeindruckt über das fulminante Wissen ihres Tischgenossens.

      "Ähm, lieber Herr Claus. Zweifeln Sie etwa an meinem logischen Verständnis?" Der Experte hob herausfordernd seine Augenbrauen. "Warum sollte diese Platte plötzlich an Wert gewinnen? Nein, nein, sie liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch immer an ihrem angestammten Platz im Tresor, so wahr ich Korhonen heiße. So, und jetzt lasse Sie uns erst einmal angemessen dinieren."

      Zwei Kellner waren mit den bestellten Speisen im Anmarsch. Für Claus waren es die gewünschten Hamsi-Sardellen, gegrillt, mit Reisbeilage und ebenfalls gegrillten Paprikaschoten. Rooperti, dem schon sichtlich das Wasser aus dem Mund lief, verschlang die ansehnlichen, auf verschiedene gedünstete Gemüsesorten repräsentativ angerichteten Seeteufelfilets, bereits mit den Augen.

      Während Rooperti noch in vorfreudiger Betrachtung seines Fischarrangements versunken war, machte sich ihre neue Bekanntschaft bereits über sein Shish-Kebap her, ein scharf gewürztes Fleischgericht.

      Bevor sie wieder das Gespräch aufnahmen, orderten sie nach der Hauptmahlzeit als Dessert jeweils eine Portion klebrig-süße Helva in Casserole sowie den unerlässlichen Apfel-Tee.

      Nachdem sie alles vertilgt hatten, lehnten sie sich satt und zufrieden zurück.

      „Ich gehe davon aus, dass Sie sich die Schatzkammer im Topkapi ansehen möchten", knüpfte der Professor an das vorherige Thema an und fischte dabei aus einem Schälchen eine Handvoll Kichererbsen zum Knabbern. „Wenn Sie möchten, begleite ich Sie. Ich habe sowieso noch in der Gegend zu tun. Morgen früh würde es bei mir passen. Was meinen Sie?"

      Bevor Santu etwas sagen konnte, antwortete Rooperti: „Ja, sehr gern. Begleiten Sie uns doch."

      Erstaunt über seine plötzliche Verbindlichkeit schaute Claus auf seinen Knecht.

      Doch sofort dämmerte es ihm: Ach, mein rutenschwingender Pappenheimer, ich lese in dir wie in einem offenen Buch. Du Schlitzohr hast bestimmt nur zugestimmt, weil du dachtest, dass ich mich dann für das Gegenteil entscheide. Na warte, Früchtchen.

      „Ach ja, das wäre nett. Wir wären wirklich sehr geehrt."

      „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite", erwiderte der Professor formvollendet, während Rooperti das Gesicht verzog, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

      "Vergiss deinen Schirm nicht, lieber Knecht", sagte Santu schmunzelnd, als es Zeit zum Aufbruch war. Selbst ein Weihnachtsmann benötigte schließlich seinen Schlaf.

      Topkapi-Palast

      Als Treffpunkt hatten sie das „Tor der Begrüßung", Bab-ı sa-lam, ausgemacht. Für einen Palast in dieser Dimension ist das, zumindest auf den ersten Blick, eher ein bescheidener Zugang. Zumindest wird dessen Schlichtheit von zwei flankierenden achteckigen Spitztürmchen, die eine gewisse Ensemblewirkung haben, etwas aufgefangen.

      Das Tor bildet den Eingang zum zweiten von insgesamt vier Palasthöfen. Während der erste Hof „von Hans und Franz“ betreten weden können, muss man für den Zutritt zum zweiten Hof, den eigentlichen Palastbereich, selbstverständlich Eintritt bezahlen, wie die Existenz eines Kassenhäuschens eindeutig belegt.

      Das Topkapi, auch Topkapi-Serail oder Kanonentor-Palast genannt, ist die zu Stein gewordene Inkarnation des gewaltsam herbeigeführten Herrschaftsanspruchs der Osmanen auf die alte byzantinische Hauptstadt. Jahrhundertelang war der Palast der Wohn- und Regierungssitz der Sultane sowie das Verwaltungszentrum des Osmanischen Reiches.

      Schon kurz nach der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 begann Sultan Mehmet II. mit dem Bau des prunkvollen Palastes auf dem heutigen Platz namens Sarayburnu, der Halbinsel, die vom Bosporus, Marmarameer und Goldenem Horn umspült wird.

      Der Palast bildet mit einer Größe von 70 Hektar fast schon eine eigene Stadt, in der bis zu 40.000 Menschen gelebt haben sollen.

      Die Anlage besteht aus vier richtigen Höfen, die von der großen Palastküche eingerahmt sind, der Gewändersammlung, dem Reliquiensaal, dem großen Harem, dem Regierungs- und Versammlungsgebäude sowie… der Schatzkammer.

      Pünktlich um neun Uhr standen der Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht vor dem "Tor der Begrüßung", vor dem sich ein grün uniformierter Ehrensoldat mit seinem