Thomas Jütte

Steinige Jagd


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Hinweis auf sie", ließ Claus sich nicht beirren. „Übrigens heißt die Stadt mittlerweile Demre beziehungsweise Kocademre. Und genau dort sehen wir uns um. Basta!"

      „Wir? Heißt das etwa, ich muss mit?", fragte Rooperti entgeistert, auf dem jetzt alle Augen ruhten.

      Mittlerweile hatte sich eine aufgeregte wie neugierige Schar Wichtel, einige Rentiere, Schafe und Ziegen - kurz, ein Großteil der Belegschaft von Korvatunturi - um Santu, Rooperti und den defekten Zeitdilatator gebildet.

      Das Rezept

      „Natürlich kommst du mit. Vielleicht kannst du dich nützlich machen", bestimmte Santu und erntete damit bei seinen zwei- und mehrbeinigen Betriebsangehörigen ein zustimmendes Gemurmel.

      Das hatte sich der Knecht ganz anders vorgestellt. Koffer packen jawohl, aber nicht um ins unchristliche Anatolien zu pilgern, sondern um zu seiner geliebten Insel der Glückseligkeit zurückzukehren. Ins heimische Ukonkivi. Gemeinsam mit Rudolph, seiner treuen Seele. Aber so wie es aussah würde daraus wohl nichts werden.

      Nach einem kurzen Moment unschlüssigen Schweigens: „Und wann soll's losgehen? Wir nehmen doch sicherlich den Rentierschlitten, oder?", schien sich Rooperti offensichtlich damit abgefunden zu haben.

      „Den auffälligen Schlitten? VOR Heiligabend durch die Weltgeschichte herumkutschieren? Warum nicht gleich mit dem Space-Shuttle. Komm, ruf Houston in Texas an, und mach eins klar.“

      Rooperti überlegte, ob sich Santu über ihn lustig machte.

      „Dann lass uns wenigstens die Schafe vorspannen. Die sind kleiner, unscheinbarer und fallen nicht so auf." Dieser Vorschlag wurde mit einem aufgeregten Blöken quittiert.

      „Oh ja bitte, wir wollen in den Süden!", bettelte einer der Wiederkäuer.

      „Mögen die uns auch?", wollte ein anderer wissen.

      „Ja, gut durchgebraten, du dummes Schaf", mischte sich das Leittier ein, das ein bisschen mehr Verstand zu besitzen schien, als seine Artgenossen, die jetzt wie belämmert aus der Wolle glotzten.

      Der kurzen schockstarren Stille folgte ein regelrechter Sturm der Entrüstung, das reinste Tohuwabohu. Ein Schaf versuchte das andere zu übertönen.

      „Näääh, näääh!", beanspruchten die betroffenen Vierbeiner ihr Recht auf Meinungsfreiheit und blökten sich kollektiv ihren Paradigmenwechsel von der Seele. Die gedankliche Kehrtwende war eindeutig und unmissverständlich.

      So ergriff auch der Leithammel letztendlich und beschlussfassend das Wort und gab die endgültige Entscheidung bekannt: „Näääh, wir bleiben hier!"

      „Dann nehmen wir halt die Ziegen", versuchte Rooperti seine Idee zu retten, die er überaus genial fand.

      „…die werden vorher gern in Knoblauchöl mariniert", kommentierte deren Anführer sarkastisch. Mit einem einvernehmlichen Gemeckere schmetterten so auch die vierbeinigen Bartträger diesen für sie völlig abstrusen Vorschlag ab. War man nicht eben erst bezüglich der barbarischen Essgewohnheiten dieser südostländischen Kannibalen sensibilisiert worden?

      „Und wenn wir nur Rudolph nehmen, ganz alleine, ohne die anderen?", versuchte es Ropperti ein letztes Mal.

      Rudolphs Nase schwoll an, drohte fast zu platzen, verfärbte sich dramatisch ins Dunkelrote: „Bin ich etwa KEIN Rentier? Und bin ich etwa kleinwüchsig? Vielleicht haben die auch Appetit auf mich?! Hallo!?! Kann mich jemand hören?!?"

      Dieser Argumentation war natürlich weder Wesentliches hinzuzufügen, noch entgegenzusetzen.

      „Rentierfleisch", gab nur Santu überflüssigerweise seinen Senf dazu, „zählt nicht von ungefähr zu den weltweit wohlschmeckendsten und nahrhaftesten Fleischsorten." Grundsätzlich hatte er ja recht. Denn aufgrund seines niedrigen Cholesteringehalts und des hohen Eiweißanteils gilt es als sehr wichtig und als eine gute Ergänzung für eine gesunde Ernährung. Weltweit.

      Santu Claus, völlig in Dozier-Laune, blickte selbstgefällig auf sein Auditorium, das mit aufgerissenen Augen und Mündern zuhörte - allen voran die betroffenen Geweihträger.

      „Sehr beliebt ist übrigens der Schinken aus Rentierfleisch", nahm er diese unverhoffte Aufmerksamkeit zum Anlass, weiter vorzutragen. „Dafür verwendet man vor allem das Fleisch aus der Keule. Und zubereitet wird das folgendermaßen: Nach dem Salzen muss das Fleisch über 20 Tage sorgfältig kalt geräuchert werden, so dass man einen sehr zarten, aromatischen Schinken erhält…"

      Erwartungsvoll blickte Santu in die Gesichter seiner nun völlig verstummten Zuhörerschaft. Wie jedes Mal freute er sich auch diesmal, sein Team mit seinem fulminanten Wissen beeindrucken zu können.

      Ok, dachte er bei sich, die Wichtel gaben sich ob seines Monologs wie üblich betont desinteressiert. Aber was will man von diesen Schrumpfhirnen auch anderes verlangen?

      Die Schafe und Ziegen indes hatten - sicherlich vor interessierter Aufmerksamkeit - die Luft angehalten, wie deren rote Köpfe eindeutig bewiesen.

      Und die Rentiere erst, wie die mich bewundern, ja, anhimmeln, konstatierte er in koketter Selbstgefälligkeit. Schaut nur, diese aufgerissenen Augen in den blassen Gesichtern. Nein, wie putzig…

      Auch auf Rooperti schien der Vortrag, zumindest seiner Meinung nach, nicht ohne Wirkung geblieben zu sein: Seht, wie ihm das Wasser im Munde zusammenläuft. Und dann dieser sabbernde Speichelfluss, rechts und links, aus den Mundwinkeln. Brrrrh...

      Der undefinierbare Blick Roopertis wechselte dabei ständig von Santu zu Rudolph, der sich mittlerweile vor Angst erbrochen hatte.

      Natürlich glaubte Claus zu wissen, welche Gedanken seinem Knecht gerade durch den Kopf schossen: Rudolph mit einem Apfel im Maul, angerichtet nach Art des Hauses...

      Wie es aber aussah, schien offensichtlich nun doch keines der Getiere wirkliche Lust auf eine Exkursion in den sonnigen Süden zu haben.

      „Ok, ok, Kommando dann zurück", beruhigte Claus seine verstörte Mannschaft.

      „Wir verreisen dann eben ohne Vierbeiner. Also los, mein lieber Knecht. Schlaf' nicht ein. Buch' uns fix für morgen Abend zwei Flüge nach Antalya. Und dann ab, Reisetasche packen. Morgen, in aller Herrgottsfrühe, brechen wir nach Kittilä auf, zum Flughafen. Wenn der türkische Halbmond im nächtlichen Zenit steht, will ich da sein."

      Die Würfel waren gefallen. Erleichtert atmete das versammelte Viehzeug aus. Auch Rudolph fiel eine Zentnerlast vom Herzen und sackte ermattet in sich zusammen. Hatte das Ren doch richtig Schwein gehabt, da es - zumindest im Moment - weder in der Türkei noch im heimatlichen Ukonkivi schmackhaft zubereitet würde, wobei ihm der Ort seiner lukullischen Apokalypse letztendlich egal gewesen wäre.

      Singendes Eis

      Es herrschte ein fürchterliches Schneetreiben bei mindestens 20 Grad Minus, als sich zwei vermummte Gestalten frühmorgens zu Fuß auf ihren langen Weg in südwestlicher Richtung machten.

      Primäres Ziel der beiden Wanderer war Kittilä. Unbestrittenes Highlight dieses Sechseinhalbtausend-Seelen-Städtchens war ihr Flughafen, der immerhin den Anspruch auf Internationalität erhob.

      Der Winter in Finnland ist legendär und lässt jeglichen Spaßfaktor vermissen. Minustemperaturen von über 30 Grad sind der Normalfall, entlocken den abgehärteten Einheimischen aber nur ein warmherziges Lächeln, aber meist erst nach dem zweiten Saunagang.

      Begleitet wird die klirrende Kälte von einem unablässigem, eisigen Wind, der schneidend durch Mark, Bein und jeglichem positiven Gedanken fährt. Der Windchill-Effekt tut sein Übriges, um einen restlos um die gute Laune zu bringen.

      Ohne Vliesbekleidung und Thermo-Unterwäsche, Thermo-Handschuhe, Winterstiefel und Mütze mit Ohrenschutz hätten unbedarfte Spaziergänger in der finnischen Tundra ein echtes Problem, soweit sich - abgesehen von Menschen mit unbehandelten Psychopathien - überhaupt jemand ins Freie gewagt hätte. Falls doch, wurde das auch meist mit Frostbeulen und Erfrierungen allerhöchster Gradierung an allen denkbaren,