Thomas Jütte

Steinige Jagd


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trabten. Eine schnuckelige Boeing 717 der Scandinavian Airlines wartete dort bereits mit laufenden Triebwerken auf ihre menschliche Fracht.

      Das Fluggerät beförderte sie binnen weniger Minuten zum Arlanda-Airport in Stockholm, Schwedens Hauptstadt. Dort genossen sie erstmals ausgiebig ihre Wartezeit: Satte zweieinhalb Stunden. Und wenn ihnen nicht die gemeingefährliche Dicke und die neunmalkluge Frucht ihrer wulstigen Lenden über den Weg liefen, konnten sie es zum ersten Mal etwas lockerer angehen lassen und entspannen.

      Rooperti und Santu nutzten den längeren Stopp eilig zum Besuch der Räumlichkeiten, zu denen selbst der Weihnachtsmann zu Fuß hingeht. Nach Erledigung dringend-drängender Stoffwechselvorgänge, entledigten sie sich dort ihrer eskimoähnlichen Winterbekleidung und durchschwitzten Thermowäsche. Aus ihren Koffer-Trolleys zauberten sie unauffälliges, mitteleuropäisches, touristisches Winter-Outfit hervor. Nur auf seine eigenwillige Mütze, darauf wollte Santu nicht verzichten.

      Erleichtert und erfrischt machten sie es sich anschließend in der Besucher-Lounge bequem, um sich ein paar Sandwiches sowie einen Glühwein mit Schuss zu genehmigen. So konnte man es sich gefallen lassen.

      „Kippis!"

      „Kippis!" prosteten sie sich durchatmend zu.

      Langsam fiel die Spannung von ihnen ab. Während Claus bereits gedanklich ihre Vorgehensweise an ihrem Ziel in Demre bzw. Myra durchplante, schien Rooperti zu träumen. Wie geistesabwesend starrte er nur auf seine Schuhspitzen.

      Endlich ihr nächster Aufruf. Gemächlich schlenderten sie zum Zielpunkt der Order: Terminal 5.

      Ihr Fluggerät war diesmal eine Nummer größer, ein Airbus 320, und ihre Fluggesellschaft Turkish-Airlines. Eine türkische Fluggesellschaft UND ein betagter Airbus. Na, das hat mir gerade noch gefehlt. Lieber Gott, nutzte Santu seinen engen Draht nach oben, lass uns auch diesmal nicht in Stich.

      Ließ er nicht. Denn nach viereinhalb Stunden ruhigem Flug, die sie komplett verschliefen, landeten sie wohlbehalten und einigermaßen ausgeruht auf dem Flughafen Atatürk-International Havalimani in Istanbul.

      Istanbul, das über 1350 Jahre alte Byzantion, auch Byzanz genannt, wurde 330 nach Christus als Hauptstadt des oströmischen Reiches in Konstantinopel umbenannt, nach Konstatin des Großen.

      Konstantinopel, die einzigartige Stadt am Golden Horn. Die Stadt der Reliquien der beiden großen Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos und Gregor von Nazianz.

      Konstantinopel, das seit der Eroberung durch den Sultan Mehmet II. und seiner Janitscharen-Armee im Jahre 1453 nicht mehr zu Santus und Roopertis Verbreitungsgebiet gehörte.

      Doch die vier Stunden Zeit, die sie bis zu ihrer letzten Flugetappe nach Antalya zur Verfügung hatten, reichten nicht einmal für den kleinsten Blick auf die Besonderheiten dieser Stadt. Nicht einmal auf einen der zahlreichen Regenschirmverkäufer, die bei diesem Wetter - es schien gerade Hunde und Katzen zu regnen - wie Pilze aus dem Boden schossen. „Schade", seufzte Claus. „Wie gern hätte ich mich hier ein bisschen umgesehen."

      „Hier gibt's bestimmt viele freche Kinder - und dazu noch gottlose…", bedauerte auch Rooperti ihren kurzen Aufenthalt.

      Mit einer ebenfalls nicht mehr ganz so neuen Boeing 738 jetteten sie dann endlich dem vorläufig letzten Flugziel ihrer Reise entgegen: Antalya, die okkupierte Perle an der türkischen Riviera, der Rubin in der Krone namens lykische Küste. Der Traum aller betagten Rentner und gut betuchten Langzeiturlauber.

      Die 75 Minuten in der Luft waren eigentlich kaum der Rede wert - sieht man einmal von der Tatsache ab, dass es sich wieder um einen Flug mit Turkish-Airlines handelte. So sah man den beiden auch ihre Erleichterung an, als die Boeing am modernen Ankunfts-Terminal in Antalya zum Stillstand kam. Endlich da!

      Vom Airbus aus gelangten sie durch einen raupenartigen Verbindungsgang direkt ins Flughafengebäude. An der Gepäckförderanlage, dem sogenannten Kofferband, trafen sie mit gemischten Gefühlen auf alte Gesichter:

      „Onkel, warum trägst du nur diese lustige Mütze?"

      Ich glaub's einfach nicht. Lieber Vater, gib mir Kraft. Mach, dass ich nicht die Beherrschung verliere.

      Die Göre stand im Schatten ihrer mutmaßlichen Gebärerin, die kampflustig wartete und sicherlich jede Antwort als Grund für einen schmerzhaften Präventivschlag genommen hätte. Den Gefallen tat Claus ihr aber nicht, wusste er sich doch zu beherrschen, wenn auch nur mühsam.

      Auch Rooperti blieb still. Er konnte auch nicht anders, da ihm Santu mit beiden Händen den Unter- an den Oberkiefer presste.

      Der Schlund an der Wand, durch welches sich das Kofferband heraus schlängelt, spuckte ihr Gepäck als erstes aus. Das kam Claus gerade recht, denn seine Arm- und Schultermuskeln, die noch immer für einen zwangsverstummten Rooperti sorgten, machten langsam aber sicher schlapp.

      Schnell klaubten sie ihr Gepäck vom Band, und los ging‘s in Richtung Ausgang.

      Draußen machten sie erste Bekanntschaft mit dem mediterranen Winterklima. Wohlig erschauerten die beiden Eisheiligen ob der 12 Grad Celsius und angesichts der zahlreichen Palmen und der Sonne am fast wolkenlosen, frühmorgendlichen Himmel.

      Der Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht, die kälteerprobten und Einsamkeit liebenden Lappländer, staunten über das exotische Treiben, das sich vor ihren Augen abspielte: Busse, Taxen und Privatautos, die in scheinbarer Missachtung jeglicher Verkehrsregeln kreuz und quer fuhren und wohl gerade ein Wetthupen veranstalteten.

      Es wimmelte von feinen Anzugträgern und landestypischen Antalyanern in farbneutralem Schlabberlook, dunkelhaarigen Schönheiten und vermummten Schleiereulen.

      Einheimische wie Reisende, zum Teil wie Maulesel bepackt, eilten wie blind und scheinbar lebensmüde über die verkehrsträchtige Straße vor dem schicken Dis-Hatlar-Terminali.

      Im Dolmuş

      „Nehmen wir den Bus?", wollte Rooperti wissen, ohne seinen Blick von einer schuluniformierten Kinderschar zu lösen, die scheinbar ohne Erziehungsberechtigte an einem Otogar, einer Busstation, herumlungerten.

      „Nein, wir nehmen den Dolmus", entgegnete Claus.

      „Wie kommt der denn hierher? Ich dachte, wir verzichten auf Tiere", wunderte sich Rooperti, „Dann hätten uns ja doch Dasher, Dancer oder…"

      „Dolmus ist ein Sammeltaxi und kein Rentier, du Esel", fiel Santu ihm unsanft ins Wort.

      Der Dolmuş wurde offiziell Anfang der 30er-Jahre in der Türkei eingeführt und gehört dort heute ins Landschaftsbild wie der Plastikmüll oder die zahlreichen leeren Olivenölkanister.

      Der Dolmusbetrieb hat entscheidende Vorteile gegenüber dem regulären, westeuropäischen Taxisystem. Das ist einerseits der günstige Fahrpreis, andererseits die schnelle Verfügbarkeit.

      Trauriger Nachteil: Die Fahrzeuge, es handelt sich in der Regel um antiquierte Kleinbusse, sind meist hoffnungslos überfüllt, und der technische Zustand dieser Fahrzeuge ist einer der Gründe für die hohe Selbstmordrate bei den Prüfern vom TÜVturk, der - nach gestrengem deutschen Vorbild - für die Kfz-Hauptuntersuchung zuständig ist. Ja, die gibt es tatsächlich.

      Das Fabrikat des staubgrauen Dolmus‘, den Santu und Rooperti für ihre Fahrt nach Demre ergatterten, war ihnen völlig unbekannt. Aber das hatte nicht viel zu sagen, da sie eher Spezialisten für andere Gefährte waren. So konnten sie problemlos einen russischen Dreierzug von einem Schweizer Hornschlitten unterscheiden, oder einen nordischen Nansenschlitten von einem Tiroler Ziehschlitten. Mit den unterschiedlichen Autotypen hatten sie hingegen nichts am Hut oder Mütze, erst recht nicht fremdländischer Fabrikation.

      Ihr Dolmus stammte eindeutig aus osmanischer Zeit.

      Der Karren schien mehr vom blinden Vertrauen seines Fahrers als von Rost zusammen gehalten zu werden. Er war halt alt. Sehr alt. Wie auch sein Lenker: Ein buckeliger Lykier mit faltiger, nikotinverfärbter gräulich-brauner Haut und grauem Sieben- bis 14-Tagebart. Farblich alles Ton in Ton auf sein Vehikel abgestimmt.