Thomas Jütte

Steinige Jagd


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Putenfeder garniert hatte – ein optimistischer Versuch der optischen Veredelung.

      Skeptisch glotzte der Mann, die qualmende Anadolu lässig im Mundwinkel, erst auf Rooperti, dann auf Santu, dann auf dessen Mütze.

      „Du lykische Mütze, ich phrygische Mütze", übte sich Santu in Konversation, um das Eis zwischen den beiden Kulturen zu brechen. Schließlich hatte man noch über zwei Stunden gemeinsame Fahrt vor der Brust.

      Der Mann stierte ihn weiter mit großen, glotzenden Augen an. Er glich unfreiwillig einem frisch geangelten Silvesterkarpfen auf dem Schneidebrett, angesichts eines gewaltigen Hackbeils.

      „My friend“, versuchte es der leider nur mit mangelhaften Fremdsprachenkenntnissen gesegnete Santu weiter, „Chic hat you has".

      Doch vergebens. Der türkische Cyprinus carpio stierte stumm wie ungerührt weiter.

      „Onlar kafasına çok güzel hur, iyi bir adam var“, sprach plötzlich Rooperti den Karpfen an.

      „Teşekkür ederim. Onlar çok dostu vardır“, antwortete der Bärtige postwendend. Er konnte also doch sprechen.

      Diesmal war es Santu, der wie ein Karpfen glotze. Sein fragender Blick wechselte zwischen dem grauverliebten Fahrer und seinem wundersamen Knecht hin und her: „Du sprichst diese, dieses… Kauderwelsch?!?"

      „Ja natürlich", lautete die lapidare Antwort, „Und nicht nur dieses Kauderwelsch, was übrigens Türkisch ist.“

      „Wieso?“

      „Na, weil wir schließlich in der Türkei sind, und man davon ausgehen kann, dass ein Einheimischer hier keine andere Spr...“

      „Quatsch. Ich will wissen, wieso du dieses Heidenzeug sprechen kannst?“

      „Ach sooo“, bewies Rooperti beeindruckend, dass er nicht schwer von Begriff war. „Was soll man denn sonst machen, den ganzen Sommer lang, auf einer einsamen Insel, mit nur einem Rentier als Gesellschafter?"

      Ja stimmt, was eigentlich sonst, dachte Claus und verbannte sofort, natürlich ohne schlechtes Gewissen, seine ursprünglichen Verdachtsmomente.

      Der Karpfen indes war jetzt ein Quäntchen freundlicher, zumindest dem Knecht gegenüber, und ließ es sich nicht nehmen - uns Ungläubigen, hah! -, ihr Gepäck unsanft ins hintere Teil des Kleinbusses zu befördern, wo eine ganze Sitzreihe fehlte. Claus verstand: Aha, ein improvisierter Gepäckraum. Wie originell.

      Im fahrgastlichen Raum dominierten drei Düfte, die im Wettstreit miteinander lagen: Der Geruch nach Benzin, die Ausdünstung von Knoblauch und der Gestank nach Schweiß. Während sich die beiden Lappländer durch den schmalen Gang sowie Mief nach hinten quälten - der Bus war bereits so gut wie voll -, musste Claus gleich schon wieder disziplinarisch eingreifen. Denn zielstrebig hatte sich Rooperti den freien Sitzplatz neben einem kleinen, verstockt aussehenden Bengel auserkoren. Der Junge flegelte sich auf seinem Sitz an einem der hinteren Fenster. Noch bevor sich Rooperti auf den Sitz plumpsen lassen konnte, zog Santu ihn an dessen mittlerweile ausgeleierten Ärmel zu zwei freien Plätzen auf der anderen Seite des schmalen Gangs.

      „Oyunbozan", quittierte er das mit beleidigtem Blick. Was immer das auch heißen mag, "Spielverderber" Claus ignorierte das geflissentlich und leicht verärgert ob des Herrschaftswissens seines Knechts.

      Der Anlasser knarzte mehrere Male fürchterlich, als der Chauffeur den alten Dieselmotor anwarf. Eine riesige Qualmwolke hinter sich herziehend setzte sich der Dolmus in Bewegung. Und schon nach kurzer Fahrt verließen sie die Stadt: Adieu Antalya, tschüss Muttertier, leb wohl, du Rotzlöffel.

      Die Tour führte über eine traumhafte Küstenstraße in Richtung Kemer. Rund 60 Kilometer lagen vor ihnen. Ehrfürchtig staunten sie, welch schönen Landstrich Gott hier erschaffen und es dann letztendlich den Muselmanen überlassen hatte.

      Tuvalet

      Links von ihnen stiegen steil die schroffen, graubraunen Berge des Taurus-Gebirges auf, rechts spülte das winterliche graue, unruhige Meer seine hohen Wellen bis fast an die Uferstraße.

      Der Dolmus hatte fast die halbe Streck zurückgelegt, als der Karpfen auf einen kleinen, staubigen Parkplatz einbog. Die Rostlaube stoppte neben einer roh zusammengezimmerten Bretterbude, dessen Funktion durch Myriaden von Fliegen nicht näher erklärt werden musste. TUVALET prangte es in großen, krummen und schief hingekritzelten hieroglyphen-gleichen Buchstaben auf der Seitenwand, die trotz abblätternder Farbe immerhin noch gut lesbar waren. Die Bestimmung des Verhaus war eindeutig: Eine Toilette, öffentlicher Bestimmung.

      Santus Stirn kräuselte sich in Sorgenfalten, als dieser Ort plötzlich eine eindeutige Reaktion in seinem Innersten auslöste: Hmmm, die Sache könnte jetzt durchaus Geschmäckle bekommen…

      Einige der Fahrgäste stiegen eilig aus dem Dolmus aus. Allen voran Claus, bei dem das ständige Fahrzeuggeruckel und das niederfrequente Brummen des Dieselmotors seinen Tribut einforderte. Seine durchgeschüttelten Gedärme flehten aufgrund der auf Hochtouren arbeitenden Darmperistaltik geradezu um Erlösung.

      Doch bevor er zum Zuge kam, drängelte sich ein verzweifelt dreinschauender Mitreisender mit zusammengekniffenen Beinen im Gänsemarsch vor und verschwand geschwind im Örtchen. Wobei, man möge verzeihen, „Scheißhaus" in diesem Fall sicherlich die treffendere Bezeichnung gewesen wäre. Diesen Abort als „WC", „Toilette", „Thron" oder „Häusl" zu bezeichnen, wäre in der Sache wohl mehr als unzutreffend.

      Keine Frage: Dieser armen Seele musste man einfach aufgrund seines dringenden, wie drängenden Problems Priorität einräumen. Jeder Mitreisender hätte beobachten können, wie dem armen Mann zuvor der Schweiß in wahren Rinnsalen nur so von der mit hektischen, roten Flecken versehenen Stirn heruntergeflossen war.

      Kaum war der Vordrängler in dem luftigen Verschlag verschwunden, drangen unbeschreibliche Laute an die Ohren der Wartenden: Ein schon als schmerzhaft zu bezeichnendes Stöhnen, als versuche sich ein Gewichtheber bei den Olympischen Spielen an einem neuen Weltrekord, gefolgt von gurgelnden, schmatzenden Geräuschen, denen sich jeweils ein dumpfes Platschen anschloss, vergleichbar mit einem schweren Medizinball, der aus 2 Metern Höhe in einer großen Pfütze plumpste.

      Santus Gesicht wechselte ungewollt die Farbe, wie auch die Gesichter der anderen Wartenden. Brrrr, einfach gruselig. Ich glaub'… ich glaub‘ ich muss schon nicht mehr.

      Höflich wie er war, versuchte Santu, nur das gleichmäßige Rauschen der nahen Meeresbrandung aus der gesamten Geräusch-Bandbreite heraus zu filtern. Doch vergeblich: Unbarmherzig frästen sich die unkontrollierten Töne in sein sensibilisiertes Gehirn.

      Doch noch schlimmer war, was die Geruchsrezeptoren der Wartenden ertragen mussten. Da kollabierten selbst die ortsansässigen, buntglänzenden Fliegen. Wie von einer unsichtbaren Klatsche getroffen, stürzte das Gros der Insekten reihenweise betäubt - oder gar tot - in ungewöhnlicher Kollektivität in den Matsch.

      Kurz bevor sich Claus und seine Mitreisenden kollabierten, verstummten die Geräusche schlagartig. Es folgte ein aus tiefster Seele erleichtertes Stöhnen, dem sich ein leises Geklapper und Geplätscher anschloss. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, öffnete sich quietschend die klapprige Holztür des Verhaus.

      Der Protagonist verließ, sichtlich ermattet, die Bude, stockte kurz, um dann die Anwesenden der Reihe nach mit beschämter Miene anzuschauen.

      Was jetzt, was erwartet er von uns? Zugabe-Rufe? Doch nichts dergleichen. Mit einem schlecht gelogenen „Konnte leider nicht so richtig…" nickte der Mann entschuldigend allen kurz zu und schwebte förmlich, sichtlich erleichtert, zum Minibus zurück.

      Das wurde auch Zeit. Der nächste bitte: ICH! Endlich.

      Über einen Teppich bewegungsloser Fliegen und Matsch betrat Claus das Steh-Klo, eine sogenannte „berührungslose Toilette." Das Bild, welches sich ihm bot, ähnelte stilistisch dem Kunstwerk eines entfesselten Joseph-Beuys in seinen wildesten Tagen.

      Dem Koma ziemlich nahe ging Claus in Stellung und betete für einen schnellen und reibungslosen Abschluss.