Renate Gatzemeier

Auszeit in Ebergötzen


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Sie das, Herr Schuster … und bringen Sie bitte ein paar aussagekräftige Unterlagen mit.“

      „Was denn für Unterlagen?“, erkundigte

      sich Hagen Schuster irritiert.

      „Na, Sie werden aus vorangegangenen Stellen doch sicher über irgendwelche Zeugnisse verfügen.“

      „Nein, damit kann ich zurzeit leider nicht dienen.“ Er schluckte schwer, bevor er mit belegter Stimme hinzufügte. „Die sind mir beim Umzug abhandengekommen.“

      „Aber Sie werden doch irgendwelche

      persönlichen Papiere besitzen …“

      „Nein“, unterbrach Hagen Schuster den Mann am anderen Ende der Leitung heftiger als gewollt, damit der endlich aufhören sollte, dermaßen überflüssige Fragen zu stellen. „Wie ich eingehend schon erwähnte, verfüge ich derzeit weder über persönliche noch über amtliche Dokumente, weil sie mir verloren gegangen sind.“

      „Okay, okay“, beschwichtigte Thore Liebherr den sichtlich aufgebrachten Mann und beendete das Gespräch kurzerhand mit

      den Worten. „Kommen Sie einfach vorbei

      und dann werden wir weitersehen.“

      „Worauf Sie sich verlassen können“, knurrte

      Hagen Schuster und legte den Hörer auf. Sein Puls raste und sein Blutdruck überschritt innerhalb weniger Augenblicke die Toleranzgrenze von 200. Um seine überstrapazierten Nerven wieder halbwegs in den Griff zu bekommen zündete er sich eine weitere Zigarette an und öffnete eine Dose Bier, um sie in einem Zug auszutrinken. Nach einem langgezogenen Rülpser fühlte er sich einigermaßen befreit und wischte sich mit der Hand den Schaum vom Mund. Um den Alkoholgeruch zu kompensieren holte er aus der Hosentasche ein Pfefferminzbonbon hervor und lutschte es laut schmatzend. Ein Blick auf die Uhr verdeutlichte ihm, dass er sich schleunigst auf den Weg zur Bushaltestelle begeben musste, um den einzigen Bus an diesem Morgen in Richtung Duderstadt nicht zu verpassen in der Hoffnung, dass es von dort aus einen Anschlussbus nach Göttingen geben möge, der auch über Ebergötzen fuhr.

      Sonntag, der 31. März 2019, 11:00 Uhr in Ebergötzen

      Hagen Schuster hatte die Nase von der Fahrt nach Ebergötzen gestrichen voll und kämpfte gegen die aufkeimende Wut an, indem er seine Zähne aufeinander malmen ließ, bis sie schmerzlich knirschten und beinahe zu einer Verkrampfung des Kiefers führten. Die Hände zu Fäusten geballt stand er am Ortseingang von Ebergötzen und hoffte inständig auf ein in seine Richtung fahrendes Fahrzeug, das ihn mitnehmen würde. Er selber besaß keinen Wagen und somit war er auf die Gunst fremder Autofahrer angewiesen. Erst an der Bushaltestelle im Oberdorf von Fuhrbach hatte er gemerkt, dass sonntags überhaupt gar kein Bus fuhr. Demzufolge musste er seinen Weg per Anhalter bestreiten, was sich wesentlich schwieriger als erwartet herausstellte. Bis Duderstadt hatte ihn ein älterer Mann mitgenommen, der scheinbar nur jemanden zum Reden brauchte, bevor er seine Frau im St. Martini Krankenhaus besuchte. Danach war Hagen Schuster bis

      zur Schnellstraße zu Fuß gelaufen. Die wenigen vorbeifahrenden Fahrzeuge machten allesamt einen großen Bogen um ihn, als wäre er ein Aussätziger.

      Letztendlich handelte es sich um eine alte Dame, die an diesem Tag noch eine gute Tat begehen wollte, indem sie in letzter Minute mit quietschenden Reifen am Fahrbahnrand hielt, um ihn mitzunehmen. Ihr Gelaber ging ihm schon nach wenigen Kilometern auf den Senkel, aber um keinen Rauswurf zu kassieren, hielt er einfach die Klappe und nickte nur immer zustimmend mit dem Kopf, wenn sie einen Satz zu Ende gebracht hatte. An der Abzweigung nach Ebergötzen musste er jedoch das Fahrzeug verlassen und den Rest der Strecke zu Fuß bewältigen. Er wusste, dass es sich um einen langgezogenen Ort handelte und dass sein ersehntes Ziel am Ende desselben lag. Aus diesem Grund startete er beim nächstbesten sich nähernden Motorengeräusch noch einen letzten verzweifelten Versuch und taumelte kurzerhand auf die Straße, sodass der Fahrer des Wagens gezwungenermaßen in die Eisen gehen musste. Der Schreck,

      beinahe einen Menschen umgefahren zu haben, lähmte ihn für einen Augenblick in seinem Denken, den Hagen Schuster sich schamlos zunutze machte und die Beifahrertür aufriss. Der Mann hinter dem Steuer war dermaßen verblüfft, dass er keinen Widerspruch einlegte, als sich der Fremde in das Polster fallen ließ mit den Worten.

      „Bitte bringen Sie mich so schnell wie möglich zu dem Cafe´ „auszeit“, es geht um Leben und Tod.“

      „Mann, was ist denn mit Ihnen passiert?“, wollte der Autofahrer wissen und startete durch. „Sie erwecken ja den Eindruck, als wäre der leibhaftige Teufel hinter Ihnen her.“

      „So ähnlich fühle ich mich auch“, antwortete Hagen Schuster geistesabwesend und fuhr sich mit der Hand durch sein dünnes Haar.

      „Dabei bin ich nur etwa zehn Kilometer die Straße entlang getrabt.“

      „Oh, dann sind Sie demzufolge nicht freiwillig zu Fuß unterwegs gewesen?“

      „Nein, ich hatte eine Autopanne, bin kurz hinter Duderstadt liegengeblieben“, log er und starrte durch die Windschutzscheibe.

      „Ach so, verstehe, aber warum rufen Sie nicht einfach den Abschleppdienst oder den ADAC an?“

      „Vielleicht, weil ich es nicht will …“, brummte Hagen Schuster mit einem missmutigen Seitenblick auf den Fahrer, der ihm mit seinen dämlichen Fragen fürchterlich auf den Sack ging.

      „Ist ja schon gut“, versuchte ihn der Fremde zu beschwichtigen, indem er kurz die Hände vom Steuer nahm und sie in der Luft vorsichtig auf und ab bewegte. „Warum sind Sie eigentlich so gereizt? Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen. Schließlich sind Sie mir direkt vor den Wagen gesprungen.“

      „Manchmal muss man Dinge tun, die man unter normalen Umständen nicht tun würde.“ Kaum, dass er den Satz ausgesprochen hatte, befahl er dem verdutzten Fahrer anzuhalten, damit er aussteigen konnte. Im letzten Augenblick

      hatte er ein Hinweisschild entdeckt, welches auf die rückwärtige Zufahrt zum Cafe´

      „auszeit“ hin deutete. Noch ehe der Wagen richtig zum Stehen gekommen war, hatte Hagen Schuster die Tür aufgerissen und war auf die Straße gesprungen. Zurück blieb ein verstörter Mann, der nicht glauben konnte, was ihm soeben widerfahren war. Kopfschüttelnd schloss er die Beifahrertür und überlegte, ob er eventuell die Polizei anrufen sollte.

      Hagen Schuster eilte unterdessen mit großen Schritten die mit Bäumen bewachsene Zufahrt hinunter. Schon von Weitem konnte er das rege Treiben rund um das Gebäude erkennen. Auf der Außenterrasse saßen die Menschen und genossen die Morgensonne. Stimmengemurmel drang an sein Ohr und wurde von gelegentlichem Geschirrklappern unterbrochen. Kleine Kinder spielten auf der Wiese. Ihr Lachen klang glockenhell. Das alles registrierte Hagen Schuster nur am Rande. Er hatte sein Augenmerk auf einen Mann unmittelbar vor dem Eingang gerichtet, der im Begriff war Aschenbecher auf die Tische des Außenbereiches zu verteilen. Seiner Tätigkeit nach zu urteilen musste es sich um einen Angestellten des Cafe´s, oder den Chef selber handeln.

      Hastig steuerte er auf ihn zu. Kies knirschte unter seinen Schuhen und erschwerte das rasche Vorwärtskommen. Seine Füße brannten vom vielen Laufen wie Feuer und am liebsten hätte er die Schuhe ausgezogen und wäre barfuß weitergelaufen.

      „Hallo!“, rief er in gemäßigter Lautstärke, um nicht gleich jedermann auf sich aufmerksam zu machen.

      „Meinen Sie mich?“, erkundigte sich der Mann mit den Aschenbechern und hielt in seiner Bewegung inne.

      „Ja“, antwortete Hagen Schuster und rang sich ein Lächeln ab. „Ich komme wegen der Stellenausschreibung …“

      „Sind Sie Herr Schuster?“

      „Ja, der bin ich, aber woher wissen Sie das denn, obwohl Sie mich doch noch nie gesehen haben?“

      „Ich weiß es nicht, habe nur eins und eins zusammengezählt. Wenn drei Männer sich beworben haben und zwei davon bereits hier waren, dann bleiben am