Renate Gatzemeier

Auszeit in Ebergötzen


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antwortete Hagen kurz angebunden und nahm die geöffnete Flasche in Empfang. Es fiel ihm schwer sein Gegenüber anzusehen, deshalb richtete er seinen Blick auf die

      weiße Vitrine, die mit unzähligen regionalen Bastelartikeln und Büchern bestückt war.

      „Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten“, entgegnete Theodor mit belegter Stimme und trank sein Bier in einem Zug aus. „Ich überlasse dir dann mal den Schlüssel und du gibst ihn mir morgen früh einfach wieder.“ Beim Weggehen klopfte er Hagen anerkennend auf die Schulter. „Hast heute gute Arbeit geleistet, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

      „Danke“, bemerkte Hagen sichtlich erleichtert und nahm den Schlüssel in Empfang. Wie in einer Schraubzwinge hielt er ihn fest umschlossen und mochte nicht glauben, wie einfach doch alles sein konnte, wenn man es nur wollte. Eine Weile stand er wie festgenagelt auf der Stelle und verfolgte den Fortgang des Küchenchefs, wie er die Allee hoch zur Hauptstraße marschierte. Sein Gang wirkte unsicher und zeugte von einer gewissen Müdigkeit. Ihm erging es ähnlich wie Hagen Schuster, denn auch er besaß keinen eigenen Wagen und deshalb musste er mit dem Bus vorlieb

      nehmen. Zum Glück lag sie nur etwa achtzig Meter von der Allee entfernt.

      Sonntag, der 31. März 2019, abends nach 20:00 Uhr im Cafe´auszeit

      Hagen Schuster fiel eine unendliche Last von den Schultern, als er realisierte, dass er nun für einige Stunden die alleinige Regentschaft über das Cafe´ auszeit inne hatte und dass ihn vermutlich niemand bei seinem Vorhaben stören konnte. Hinzu kam die Erleichterung sich keinen Kopf über irgendeine Busverbindung machen zu müssen, die ihm nur den Schlaf rauben und viel Zeit bei seinen Nachforschungen kosten würde. Er musste diese einmalige Chance unbedingt nutzen, um herauszufinden, was vor drei Jahren wirklich geschehen war. Natürlich hatte er damals nichts unversucht gelassen und das Anwesen immer wieder von oben bis unten durchkämmt, bis ihm Hausverbot erteilt worden war, weil sich die Gäste durch ihn und seine ständigen Fragen allmählich belästigt fühlten. Mit Polizeigewalt hatte man ihn des Geländes verwiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass er bei

      wiederholter Nichtbeachtung sogar mit einer einstweiligen Verfügung zu rechnen habe, die je nach Schweregrad auch eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen könnte.

      Hinzu kam, dass er sich beim Abtransport den Beamten gegenüber mit Händen und Füßen zur Wehr gesetzt und sie ungeachtet der anstehenden Konsequenzen zudem noch verbal beleidigt hatte.

      Mit einer stoischen Gelassenheit hatte er den Weggang des Küchenchefs beobachtet, bis der das Gelände endgültig verlassen hatte. Hastig machte der Zurückgebliebene auf dem Absatz kehrt, um sich noch ein Bier reinzuziehen. Der Chef hatte seinen Mitarbeitern den Konsum von Getränken gestattet, sodass er beim Verzehr desselben kein schlechtes Gewissen verspürte. Außerdem musste er ja seine Medikamente mit irgendeiner Flüssigkeit runterspülen. Danach fühlte er sich für das anstehende Ereignis gewappnet und spürte die Schmerzen der kräftezehrenden Arbeit des Tages kaum noch.

      Als erstes durchkämmte er den Dachboden, der einst ein Taubenschlag gewesen war und von dem man auf der Giebelseite aus durch eine schmale, verglaste Tür auf das gegenüberliegende Gebäude schauen konnte, welches einem ortsansässigen Förster gehörte. Auf dieser und auch auf der anderen Giebelseite führten schmale Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Die eine war für das Personal gedacht und die andere für die im Obergeschoss verweilenden Gäste. Vor drei Jahren war er schon einmal hier oben gewesen, um nach irgendwelchen Beweisen Ausschau zu halten, die den Aufenthalt von Helene bestätigen könnten. Doch schon damals war er nicht fündig geworden, aber das lag vermutlich auch daran, weil man ihn bereits nach kurzer Zeit wie einen Schwerverbrecher abgeführt hatte und er somit gar keine Gelegenheit für eine vernünftige Recherche finden konnte. Das sollte heute anders sein, denn auf eine solche Gelegenheit hatte er lange warten müssen, die würde so schnell nicht wiederkommen. Wichtig war vor allem, dass er sich die erforderliche Zeit für eine gründliche Suche nahm, auch auf die Gefahr hin, in der kommenden Nacht keinen oder nur wenig Schlaf zu bekommen.

      Während seines Aufenthalts in der Psychiatrie hatte er sich mit forensischen Untersuchungsmethoden auseinandergesetzt und herausgefunden, dass sich mit der Substanz Luminol selbst kleinste und verborgene Blutspritzer auch nach Jahren noch nachweisen lassen, obwohl sie dem bloßen Auge verborgen bleiben. Die Wasserstoffperoxid enthaltene Luminol Lösung wirkt nach dem Aufträufeln auf das vermeintliche Blut durch das vorhandene Eisen des Hämoglobins wie ein Katalysator und beschleunigt die Oxidationsreaktion um ein Vielfaches. Das kurzfristig sichtbare bläulich leuchtende Ergebnis lässt sich dann in einem abgedunkelten Raum gut erkennen.

      Beinahe liebevoll öffnete Hagen Schuster seinen Rucksack und beförderte eine kleine Sprühflasche zutage, in der sich das erwähnte Luminol befand. Die vielen Stühle um ihn herum verunsicherten ihn stark und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er nicht jeden einzelnen auf Blutanhaftungen untersuchen konnte. Zumal er ja nicht einmal wusste, ob Helene überhaupt jemals hier oben gewesen war und dabei auch noch Blut verloren hatte. Laut Aussage der Nachbarin stand lediglich fest, dass sie im Erdgeschoss in dem mit Fachwerk

      eingezäunten Bereich auf einem Stuhl gesessen hatte. Sichtlich enttäuscht packte er die Flasche wieder zurück in den Rucksack und konzentrierte sich stattdessen auf das Innenleben der Schränke in den Nebenräumen. Mit einer Taschenlampe durchsuchte er sogfältig jedes noch so kleine Fach in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf Helenes Verbleib zu finden. Im Grunde genommen wusste er genau, dass die Wahrscheinlichkeit, etwas Brauchbares zu finden ziemlich gering war, aber dennoch wollte er nichts unversucht lassen. Wenn sie wirklich Opfer einer Straftat geworden sein sollte, so wie er es vermutete, sie aber von niemandem gesehen worden war, dann konnte sie sich noch immer hier im Haus oder auf dem Gelände befinden. Zumindest was ihre sterblichen Überreste, die Kleidung und die mitgeführten Gegenstände betraf.

      Beim Herausziehen der letzten Schublade drang plötzlich ein Geräusch aus der unteren Etage zu ihm nach oben. Wie vom Donner gerührt verharrte er in seiner Bewegung. Noch ehe Hagen Schuster in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er auch schon gedämpfte Schritte auf der hölzernen Treppe des Personalaufgangs. In aller Eile löschte er

      seine Taschenlampe und suchte kurzerhand die Toilette auf. Dort schloss er sich in der Kabine ein. Das Licht ließ er vorsichtshalber aus. Aus Angst vor Entdeckung wagte er kaum zu atmen.

      Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und lief in kleinen Rinnsalen an den Schläfen hinunter. Im selben Moment fiel ihm siedend heiß ein, dass er vergessen hatte, die Tür im Eingangsbereich des Erdgeschosses von innen abzuschließen.

      „Hallo, ist da wer?!“, rief eine männliche Stimme, wobei die Schritte innehielten und es für einen Augenblick unheimlich still war, bis sich eine andere männliche Stimme nahezu triumphierend zu Wort meldete.

      „Da ist keiner, das habe ich dir doch gleich gesagt. Irgend so ein Blödmann hat einfach vergessen die Tür abzuschließen. Sowas soll im Eifer des Gefechts schon mal vorkommen. Schließlich ist der Laden erst seit ein paar Tagen offen und das Team längst noch nicht aufeinander eingespielt.

      Da verlässt sich jeder auf jeden und am Ende sind alle verlassen.“ Er lachte heiser und forderte seinen Kumpel durch einen leichten Schlag in den Rücken zum Weitergehen auf.

      „Vermutlich hast du recht, aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl bei der Sache. Meinst du wirklich, wir sollten weiter hierbleiben?“

      „Klar doch, Kumpel, oder willst du jetzt etwa einen Rückzieher machen?“

      „Nee, dass nicht, aber …“

      „Nichts aber“, unterbrach ihn der hinter ihm befindliche Typ und schob ihn kurzerhand beiseite. „Du musst die offene Tür quasi als einen glücklichen Zufall ansehen oder meinetwegen auch als Schicksal, denn immerhin brauchten wir nicht einmal einzubrechen, weil irgend so ein Idiot seine Gedanken nicht beisammenhatte. Überleg doch mal, das kann im Zweifelsfall niemals als Einbruch gewertet werden, weil wir weder ein Fenster noch eine Tür aufhebeln mussten. Geht das vielleicht mal in deinen Schädel rein?“