Renate Gatzemeier

Auszeit in Ebergötzen


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zu spät?“

      „Nein, die Entscheidung ist noch nicht gefallen.“

      „Was wollen Sie damit andeuten?“

      „Einer der Bewerber hat mir bereits zu verstehen gegeben, dass er kein wirkliches Interesse an der Stelle hat und nur wegen des Arbeitsamtes hier war, um keine Sperre zu riskieren.“

      „Und was ist mit dem anderen Bewerber?“, erkundigte sich Hagen Schuster mit belegter Stimme und fuhr sich vor Aufregung mit der Zunge mehrmals nacheinander über die trockenen Lippen.

      Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er mit dem Handrücken wegwischte.

      „Der andere Bewerber könnte seine Tätigkeit erst in zwei Wochen aufnehmen, sobald sein derzeitiges Arbeitsverhältnis beendet ist, aber wir brauchen jetzt sofort hilfreiche Unterstützung. Insofern besteht für Sie durchaus noch die Chance bei uns einzusteigen, wenn auch erst einmal nur probehalber für eine Woche. Danach sehen wir weiter. Was halten Sie davon?“

      „Ja, natürlich, damit bin ich absolut einverstanden.“ Sein Körper nahm plötzlich eine gestraffte Haltung an und man konnte die Erleichterung förmlich spüren.

      „Bis dahin sollten Sie dann aber auch ein paar persönliche Papiere aufgetrieben haben.“

      „Das kriege ich auf jeden Fall hin“, ereiferte sich Hagen Schuster zu sagen und nickte bekräftigend mit dem Kopf.

      „Prima, dann können Sie von mir aus gleich anfangen, denn es gibt viel zu tun. Alles Weitere besprechen wir später in aller Ruhe.“ Bei diesen Worten streckte er seinem Gegenüber die rechte Hand

      entgegen. „Auf gute Zusammenarbeit, Herr Schuster.“

      „Auf gute Zusammenarbeit“, erwiderte Hagen Schuster und erwiderte den festen Händedruck. „Was soll ich machen?“ Suchend blickte er sich um.

      „Melden Sie sich einfach in der Küche bei Theodor, der wird Sie in das Wesentliche einweisen.“

      ***

      Eine halbe Stunde später war Hagen Schuster ein völlig anderer Mensch, der sich selber nicht wieder erkannte. Der Küchenchef Theodor hatte ihm als Dienstkleidung ein klein kariertes Hemd verpasst, wie es alle anderen Mitarbeiter auch trugen. In diesem Outfit räumte er das benutzte Geschirr von den Tischen ab und in der Küche in die Spülmaschine ein.

      Dabei verging die Zeit wie im Flug und Hagen Schuster fand bis zum Feierabend kaum Gelegenheit für eine längere Pause. Insgeheim dachte er über die Heimfahrt nach und ob es nicht vielleicht besser wäre,

      die Nacht der Einfachheit halber in Ebergötzen zu verbringen, um am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen zu können. Ihm war wichtig, dass er bei seinem Chef und den restlichen Angestellten einen guten Eindruck hinterließ, damit sie ihm wohlgesonnen waren und kein Misstrauen hegten, wenn er seine Nachforschungen in Angriff nahm.

      Schließlich konnte es durchaus sein, dass er das komplette Haus und vielleicht sogar das Gelände auf den Kopf stellen musste, um irgendwelche Beweise zu finden, die ihm bei der Wahrheitsfindung weiterhelfen würden.

      Seit dem spurlosen Verschwinden seiner Frau Helene waren inzwischen fast drei Jahre vergangen, von denen er mehr als zwei Drittel in der Psychiatrischen Klinik verbracht hatte. Damals hatte sie zusammen mit einigen anderen Frauen aus ihrem Heimatort Herzberg eine Busfahrt zum Europäischen Brotmuseum in Ebergötzen unternommen. Nach der Besichtigung war man ins nahegelegene Cafe´ gegangen, um dort das Mittagessen

      einzunehmen. Im Anschluss daran konnte sich jeder seine Freizeit bis zur Abfahrt selber gestalten. Erst bei Antritt der Rückfahrt merkten die Frauen, dass Helenes Platz im Bus leer blieb. Daraufhin stieg der Fahrer wieder aus und veranlasste eine Suchaktion, um herauszufinden, ob sie möglicherweise irgendwo auf dem Gelände verletzt auf Hilfe wartete oder aber einfach nur Zeit und Raum vergessen hatte. Selbst das Personal des Cafe´s beteiligte sich innerhalb des Hauses an der Suche, allerdings erfolglos. Lediglich ihr rotes Halstuch wurde an einem Treppengeländer innerhalb der Anlage gefunden. Es flatterte dort leise im Wind und vermittelte den Eindruck, als wäre es absichtlich zurückgelassen worden.

      Mit zwei Stunden Verspätung fuhr der Bus dann ohne Helene wieder zurück in die Heimat. Da sie über kein Handy verfügte und bei ihr zu Hause auch niemand ans Telefon ging, wollte eine der Frauen am Abend bei den Schusters vorbeischauen und sich von Helenes Wohlergehen

      überzeugen. Doch auch dieses Vorhaben scheiterte, weil niemand die Tür öffnete.

      Am darauffolgenden Tag stellte sich heraus, dass der Ehemann seine Frau inzwischen bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte. Da zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise auf eine Straftat oder einen Suizid vorlagen und Helene als volljährige Person ihren Aufenthaltsort selber bestimmen konnte, wurde die Vermisste vorerst nur zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben.

      Es folgten drei schreckliche Jahre voller Ängste und Sorgen, in denen Hagens Ehefrau spurlos verschwunden blieb. Keiner konnte etwas über ihren Verbleib sagen, niemand wollte die Frau nach ihrem Weggang aus dem Cafe´ in Ebergötzen gesehen haben. Daraufhin startete Hagen alle nur denkbaren Aktionen, um seine Frau auf irgendeine Weise ausfindig zu machen. Er ließ Plakate mit ihren Personalien und einem Foto anfertigen und hängte sie an Bäumen und Laternen auf. Zusätzlich verteilte er Flyer in ganz Ebergötzen und Herzberg. Außerdem durchforstete er mit Freunden und Bekannten das komplette

      Gelände rund um das Brotmuseum und um das Cafe´. Die wenigen Hinweise aus der Bevölkerung verliefen nach eingehender Überprüfung allesamt im Sand.

      Hagen Schuster wurde nach dem Verschwinden seiner Frau regelrecht schwermütig und konnte irgendwann auch keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachgehen. Eine kurzfristig anberaumte Kur sollte Linderung verschaffen, bewirkte allerdings genau das Gegenteil, indem er einen Nervenzusammenbruch erlitt und ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Nach einer Woche wurde er von dort aus in eine Psychiatrische Klinik verlegt. Hier vegetierte er mehr oder weniger zwei Jahre und ein paar Monate vor sich hin, bevor er als gesundheitlich halbwegs stabil und medikamentös gut eingestellt wieder in die sogenannte Freiheit entlassen werden konnte.

      Das gemeinsame Haus hatte er bereits während des langen Klinikaufenthalts von einem Immobilienmakler verkaufen lassen, da er es ohne Helene sowieso nicht wieder betreten wollte und es auch keine Erben

      gab, die sich des Grundstückes hätten annehmen können. Seinen Job als Lkw- Fahrer hatte längst ein anderer übernommen und somit blieb Hagen Schuster nur noch der Weg zum Amt, denn der Erlös vom Verkauf des Hauses stand ihm aufgrund gemeinsamer Veranlagungen nicht zur Verfügung, zumindest nicht solange Helene unauffindbar blieb, egal ob tot oder lebendig.

      Als kurz nach achtzehn Uhr die letzten Gäste das Cafe´ verließen, kehrte endlich Ruhe ein und der Chef verkündete in aller Eile, dass er heute unbedingt pünktlich das Geschäft verlassen müsse und die Aufräumungsarbeiten vertrauensvoll seinen Mitarbeitern überlassen würde. Während die weiblichen Angestellten nach Beendigung ihrer regulären Arbeitszeit um rechtzeitigen Feierabend bemüht waren, blieben der Küchenchef und Hagen als einzige zurück und brachten die Küche mit vereinten Kräften wieder in ihren Ursprungszustand zurück.

      „So, mein Freund“, verkündete Theodor

      nach getaner Arbeit und zog seine

      Kochjacke aus, um sie an den Haken zu hängen. „Jetzt trinken wir noch ein Bierchen zusammen und dann geht es ab zu Frauchen ins traute Heim.“

      „Gerne“, erwiderte Hagen und folgte dem Küchenchef in den Gastraum. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich danach draußen aber gerne noch die Tische gründlich abwischen.“

      „Das SIE kannst du ganz schnell vergessen, denn wir duzen uns hier alle, bis auf den Chef und die Chefin natürlich. Aber die sind so locker drauf, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis sie uns das DU anbieten.“ Während er auf den Tresen zusteuerte, um zwei Flaschen Bier zu holen, fragte er scheinbar nebensächlich.

      „Und wieso legst du eigentlich