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Paulo wird ein Goor (9)


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einmal Mäuschen gespielt und sie in ihrem Umfeld beobachtet, aber das wäre wohl kaum möglich. Wie krass war doch der Unterschied zu dem Leben, wie wir es einst geführt hatten! Neben unserer Jugend und Frische waren wir natürlich unerfahren, aber die Unerfahrenheit schützte uns auch vor dem Zugriff des Alltags, zunächst noch, bis später die Käseglocke der Routine über uns gestülpt wurde und alles Leben abtötete.

      Der Alltag bekämpft die Triebe der Jugend und Du wirst vernichtet!

      Es war eine schreckliche Zeit bis zum Wochenende, ich schleppte mich wie in Trance durch die Tage und schaute ständig auf die Uhr, wann endlich Feierabend wäre. Am Freitagnachmittag machte ich schon um 14.30 h Schluss, ich kaufte schnell ein paar Sachen ein, dachte auch an Bier und Schnaps und fuhr zur Hütte. Je mehr ich mich der Hütte näherte, desto mehr fühlte ich eine zähe, klebrige Masse von mir weichen, die mich zurückhalten zu wollen schien. Als ich in den Waldweg einbog, war ich wie erlöst, ich streifte mir im Auto meine Kleidung vom Leib und als ich an der Hütte ankam, hatte ich kaum noch etwas an. Ich fuhr in die Remise und warf die alten Decken über den Wagen. Dann drehte ich mich zum See und saugte das beglückende Bild in mir auf, das sich mir darbot, das mir mein Leben zurückgab und mich in meine Jugend zurückversetzte. Ich stand eine Zeit lang am Auto und ließ das Bild von mir Besitz ergreifen. Wenn mich ein Außenstehender so gesehen hätte, hätte er mich für einen verwahrlosten Penner halten müssen, ich stand da wie angewurzelt auf Strümpfen, in Unterhose und Unterhemd, völlig entrückt, völlig ab vom Weltlichen.

      Ich wand mich dann langsam zur Hütte und fand sie unberührt. Ich öffnete die Fensterläden, ging hinein und riss alle Fenster auf, mein Leben hatte mich wieder. Nachdem ich mich ganz entkleidet hatte, ging ich schwimmen.

      Es war schwer, jemandem beschreiben zu sollen, was es bedeutete, in das klare unschuldige Wasser zu steigen und sich den Schmutz vom Körper zu spülen. Dann legte ich mich zum Trocknen auf den Steg. Ich schaute zum Himmel hoch und sah eine Schar Wildgänse in V-Form nach Süden fliegen. Sie sahen meinen See, aus der Vogelperspektive, ich hatte ihn mir einmal mit „Google-Map“ angesehen, er lag als ovales Gebilde inmitten einer gigantischen Waldregion. Der vordere Teil des Ovals, also unser Teil, der der Hütte zugewandt war, war der größere, er war kreisrund und hatte einen Durchmesser von ungefähr vierhundert Metern, der hintere Teil war kleiner, er hatte einen Durchmesser von rund zweihundertfünfzig Metern. Der See war meine Auszeit-Exklave, ich hatte noch nie jemand anderen am See gesehen.

      Während ich mich auf dem Steg sonnte und trocknete, vernahm ich wieder das Geräusch einer sich entladenden Gasblase im hinteren Teil, unheimlich mutete das an. Ich stand auf und lief zur Hütte, wo ich mich auf der Holzterrasse niederließ und sofort einschlief. Als ich wieder aufwachte, war die Sonne verschwunden und es wurde spürbar kühler, ich zog mir etwas Wärmeres über. Ich steckte den Grill an, trank einen Schnaps und ein Bier, ich war wieder bei mir, die teigige Zugkraft des Alltags hatte von mir gelassen, ihre Wirkung reichte nicht bis zum See, ich war frei. Warum konnte der Zustand nicht für immer anhalten? Alle belastenden und bedrückenden Gefühle waren von mir gewichen, es war eine Wohltat zu sein. Ich aß und trank und legte mich früh ins Bett.

      Der Schlaf in der Hütte war unbeschreiblich, man übergab seinen müden Körper der Natur und ließ sie mit ihm machen, was sie wollte. Es war in erster Linie die würzige Luft, die dem Körper guttat. Ich schlief sehr früh und fest, alle Fenster und die Tür der Hütte standen auf. Es gab auch nicht den Hauch eines Sich-Wehrens gegen den Arm der Natur, der meinen Körper hielt und ihn sich regenerieren ließ. Es gab zu Hause Kräfte, die einen um den Schlaf brachten, Gedanken an die Arbeit, Verwobenheit in Alltagsprobleme. In der Hütte überließ man sich der Natur und ihren Helfern, man gab sich preis. Wenn ich aufwachte, meistens geweckt durch das Vogelkonzert aus dem Wald, das sich auf der Seeoberfläche verstärkte und zu Getöse anschwoll, das ich aber niemals als störend empfand, lag ich fast immer so, wie ich mich am Abend zuvor ins Bett gelegt hatte, ein Zeichen für vollkommen relaxten Schlaf. Wenn ich aufstand, war ich frisch, nicht so ermattet wie zu Hause. Ich zog mich dann aus und lief zum See, eine kurze Abkühlung und ich schwamm, ohne große Anstrengung, als trüge mich das Wasser von selbst, es bedurfte nur weniger Schwimmzüge, um mich zu bewegen. Ich lag auf dem Rücken und ließ mich treiben, das Vogelkonzert erfüllte die Luft. Dann legte ich mich wieder zum Trocknen auf den Steg. Ich schaute dabei in den Himmel, die Sonne stand fast im Zenit und wärmte ordentlich.

      Das war der Moment, in dem ich über mich nachdachte, ich grübelte aber nicht, es war ein Nachdenken ohne viel Tiefgang, ich schlief sogar ein.

      Das Boot, das immer am Steg lag, hatte etwas Wasser aufgenommen, es war sicher vierzig Jahre alt und in erstaunlich gutem Zustand. Ich schöpfte das Wasser aus dem Boot und lief dann zur Hütte hoch, um mir einen Tee zu kochen. Ich schnitt ein Stück Brot ab und aß etwas Dauerwurst dazu, ich war völlig nackt. Bei allem, was ich tat, gab ich mich der mich vereinnahmenden Natur hin, ich bot mich ihr an, ich passte mich ihr nicht nur an, sondern versuchte, mich ihr gefügig zu machen. Die Frage war, wie weit ich dabei gehen könnte, müsste ich mich selbst aufgeben, mich opfern? Ich würde sehen. Ich zog mir Shorts und ein T-Shirt an und ging zum Steg, wo ich mich in das Boot setzte, ich löste die Leine und ließ mich auf den See treiben. Ein sehr laues Lüftchen treib mich auf die Seemitte, ich hörte, wie ein ganz leichtes Plätschern an die Bordwand klopfte. Nach und nach frischte der Wind aber auf, ja, er wuchs zu einem Sturm an, der mich das Fürchten lehrte, er war wie aus dem Nichts entstanden, wie herbeigezaubert. Längst hatte ich meine Liegeposition im Boot aufgegeben und versuchte, aufrecht sitzend den Kahn zu rudern, das gelang mir aber nicht. Ich verlor vor lauter Hin-und Herwackelei im Boot ein Paddel, es glitt mir einfach aus der Hand und mit einem Paddel war ich manövrierunfähig. Noch nie hatte ich den See so wüten gesehen. Ich versuchte, die Hütte zu sehen, das gelang mir in der waagerecht peitschenden Gischt aber nicht, hohe Wellen schlugen gegen das Boot, Wassermassen ergossen sich in das Innere. Die auf mich niederprasselnden Wellen waren meterhoch, man hätte meinen können auf dem offenen Meer zu sein, ich wusste längst nicht mehr, an welcher Stelle des Sees ich mich befand. Das Wasser war schwarz und bedrohlich, als trennte es Himmel und Hölle, wie von einer wütenden Macht aufgewühlt tobten die Wellen um mich herum. Wer oder was mochte wohl die Ursache für die tosenden Gewalten sein?

      Doch zum Denken hatte ich keine Zeit, ich hatte große Mühe, im Boot das Gleichgewicht zu halten und nicht über Bord gespült zu werden. Die Ruderbänke waren glitschig und auch der Bootsboden bot keinen sicheren Stand. Ich versuchte mit aller Macht, das Wasser aus dem Boot zu befördern, ein Gefäß hatte ich nicht, mir blieben nur die Hände. Ohne einen Anhaltspunkt am Ufer war es mir nicht möglich, meine Position zu bestimmen, die Gischt nahm mir die Sicht, ich glaubte aber, dass mich der Sturm in den hinteren Seeteil getrieben hatte. Inzwischen war auch das Tageslicht fast verschwunden, es umgab mich eine unnatürliche Dunkelheit, das Wasser um mich herum schien zu kochen, Wellenzungen griffen nach mir, als wollten sie mich zu sich ziehen, meine Bemühungen, das Wasser aus dem Boot nach draußen zu befördern, waren vergebens, ich kam gegen die hereinbrechenden Wassermassen nicht an. Also war es eine Sache von wenigen Augenblicken, dass das Boot mit mir unterginge und ich ertränke, denn an Schwimmen war in der keifenden Flut kein Denken. Plötzlich tat es einen gewaltigen Schlag und das Boot zerbrach an einer Felswand, so viel konnte ich noch erkennen, es musste das Steilufer im hinteren Seeteil sein. Ich bekam im letzten Moment einen Felsüberhang zu greifen und hangelte mich seitwärts, bis ich an eine Flachstelle des Ufers gelangte, ich hatte mir dabei Schürfwunden eingehandelt und eine schmerzhafte Knieverletzung zugezogen. Völlig erschöpft ließ ich mich auf das Uferflachstück fallen und gab Acht, dass ich nicht wieder ins Wasser gezogen wurde. Dann verlor ich das Bewusstsein, vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht wurde ich betäubt, ich konnte es im Nachhinein nicht sagen.

      Die Transformation

      Als ich erwachte, war alles um mich herum anders. Es gab keinen Sturm mehr, die Luft war angereichert mit einem süßen Duft wie von Honig, man hörte zunächst nur Vogelgezwitscher, der Blick auf den See schien mir fremd, es war zweifellos der hintere Seeteil, an dem ich mich befand, es war mir aber nicht möglich, zur Hütte zu schauen, nach ungefähr zweihundertfünfzig Metern zog sich eine Art Lichtvorhang über den See, weiter konnte man nicht sehen. Das Wasser lag vollkommen friedlich und