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Paulo wird ein Goor (9)


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brauchst vor den Tieren keine Angst zu haben!“, sagte das Wesen mit einem Male zu mir, noch dazu in meiner Sprache! Ich muss wohl ein überaus erstauntes Gesicht gezogen haben, weil ich mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit, von einem mir völlig fremden Wesen in meiner Sprache angesprochen zu werden. Die Stimme des Wesens war gutmütig und vertrauensvoll, ich glaubte gesehen zu haben, wie es lächelte. Sein Mund öffnete sich leicht und ich konnte eine Reihe großer Zähne sehen. Das Wesen machte einen absolut offenen und freundschaftlichen Eindruck, es kam mir zwei Schritte entgegen und streckte seine Hand oder sollte ich besser sagen, seine Pranke, aus. Ich zögerte, eine gewisse Grundangst war bei mir doch vorhanden, dann überwand ich aber meine Furcht und ergriff die Hand des Wesens. Es zog mich mit Leichtigkeit hoch, fast schwebte ich durch die Luft, sodass ich einen Eindruck von dessen großer Kraft bekam.

      Bortan

      „Ich denke, dass ich Dir ganz viel erklären muss, Paulo!“, sagte das Wesen zu mir, als ich neben ihm stand, „ich darf mich zunächst einmal vorstellen, mein Name ist Bortan, ich bin ein Goor, das Volk der Goor wohnt schon seit ewigen Zeiten hinter dem See, der Euch ja immer verschlossen geblieben war. Ihr glaubtet drüben bei Eurer Hütte, unser Teil des Sees wäre verwunschen und seid niemals herübergekommen, ab und zu war ein Järv bei Euch, ihr werdet Euch über die Spuren am Seeufer gewundert und vielleicht gedacht haben, dass es sich um die Trittsiegel von Wildtieren gehandelt hatte!“ Mit einem Male sagte Bortan etwas in einer mir völlig fremden Sprache, es schien die Sprache der Vielfraße zu sein, Järv nannte er die Tiere, jedenfalls verschwanden beide auf der Stelle den Hang hinauf. Ich stand plötzlich allein neben einem Alien, noch völlig sprachlos, was war da über mich hereingebrochen, was wollte dieser Bortan von mir?Ich war über alle Maßen misstrauisch und mein Misstrauen schien mir ins Gesicht geschrieben. Bortan versuchte, mich zu beruhigen und redete in sanften Worten auf mich ein.

      „Vielleicht wunderst Du Dich über so manches, was Du bisher gesehen und erfahren hast, Paulo, Du wirst Dich noch viel mehr wundern und mit Dingen in Kontakt kommen, von denen Du nicht einmal geträumt hast. Sicher hast Du Dich schon über Deinen jugendlichen Körper gefreut, im Reich der Goor gibt es kein Altern, alle sind nach den Kriterien, die bei Euch gelten, jung und bleiben es auch, sobald ein Mensch das Goor-Reich betritt, so wie es mit Dir das erste Mal geschehen ist, wird sein Körper verjüngt.“

      Ich hatte mich langsam etwas gefangen, jedenfalls war ich in der Lage, Bortan zu fragen, was ich denn im Goor-Reich sollte, die ganze Sache mit dem Sturm auf dem See und dem Lichtvorhang wäre doch inszeniert gewesen, „was soll ich bei Euch?“, fragte ich Bortan direkt.

      Bevor Bortan antwortete, holte er weit aus und beschrieb die Umstände, unter denen die Goor lebten, ihr großes Reich, ihre gesellschaftliche Organisation. Wir standen dort am Hang, wie zwei Bekannte, die ein Schwätzchen hielten. Bortan merkte, dass ich die Haltung, in der ich am Hang stand, ungemütlich fand, ich wechselte von einem Bein auf das andere, es schien mir schwer, an dem steilen Hang einen sicheren Stand zu erlangen. Wir liefen den Hang hinauf und mir fiel auf, mit welcher Behändigkeit Bortan die Steilheit nahm, zügigen Schrittes marschierte er voran, ich hatte selbst in meinem jugendlichen Körper Schwierigkeiten, ihm zu folgen, ich hatte immer den angenehmen Honigduft in der Nase. Es waren sicher noch hundert Höhenmeter zu überwinden, als ich Bortan zurief, dass wir noch eine Pause machen sollten und Bortan sofort stehenblieb. Ich lehnte an einem Tannenstamm und japste, der dichte Wald, der uns umgab, gab keinen Blick auf den See oder die Umgebung frei. Die Tierstimmen, die ich vernahm, waren das einzig Vertraute, alles andere war mir fremd.

      „Soll ich Dich tragen?“; fragte Bortan mich und meinte es mit seinem Angebot tatsächlich ernst. Er hatte ein breites Kreuz und hätte mich bei der Kraft, über die er zweifellos verfügte, wohl locker den Rest des Hanges hinaufgetragen. Ich lehnte aber dankend ab und freute mich über die jugendliche Energie, über die ich mit einem Male verfügte, wenngleich ich bei weitem nicht an das Leistungsvermögen Bortans heranreichte. Nach einer kurzen Verschnaufpause liefen wir den Geröllhang weiter hinauf, Bortan immer vorne weg, leichten Fußes, ich schleppte mich keuchend hinterher. Wir erreichten dann nach einer weiteren Viertelstunde des Kletterns den Gipfel des Steilhanges und ich erhielt einen Blick auf Bortans Wohnumfeld, der Blick zurück blieb mir wegen des dichten Waldes weiterhin verwehrt. Ich sah eine stadtähnliche Ansiedlung mit Häusern und Straßen, auch sah ich viele Goor herumlaufen, alle trugen eine ähnliche Kleidung wie Bortan, lediglich die Farben der Jacken unterschieden sich. Am Stadtrand, wo Bortan und ich uns befanden, setzten wir uns in die Wiese und Bortan fing an zu reden. Das, was ich da sah, könnte ich nur sehen, weil ich einen Verwandlungsprozess beim Betreten des Goor-Reiches durchgemacht hätte. Ich sollte mir ein Vexierbild vorstellen, dessen eine Seite von Menschen wie mir gesehen werden könnte und dessen andere Seite nur den Goor sichtbar wäre. Auch die akustische Wahrnehmung unterläge der Verwandlung, Menschen könnten die Goor nicht hören. Vor mir läge eine von vielen Städten im Goor-Reich, überschaubaren Ausmaßes, wie es hunderte weitere gäbe. Das Goor-Reich hätte immense Ausmaße, es erstreckte sich über das gesamte Land und würde bis weit hinter das Gebirge reichen. Die Goor wären ein friedfertiges Volk, weil es so etwas wie Neid bei ihnen nicht gäbe, aus Neid resultierende Besitzansprüche wären völlig unbekannt. Die Goor lebten um des Lebens willen. Sie wären im Prinzip in einer Art Dauerglückszustand, den sie als solchen aber nicht empfänden, weil alles so selbstverständlich wäre, weil sie nie einen Mangel verspürten. Die Goor wären ansonsten aber in vielem den Menschen ähnlich, sie ernährten sich wie sie, sie aßen allerdings etwas anderes, sie lebten in Häusern, fuhren Auto und liebten ihre Frauen und Kinder. Selten ging es den Goor darum, etwas erreichen zu wollen, sie hätten schon alles von Geburt an. Was die Goor von den Menschen unterschied, war die Art der Nahrungsaufnahme, nie aßen die Goor nur zum Vergnügen, sondern allein, um dem Körper Nährstoffe und Vitamine zuzuführen, denn sie hätten einen dem menschlichen Körper vergleichbaren Organismus, der mit Energie versorgt werden musste. Dazu würden vor jedes Haus Pakete mit „Kum“ abgelegt bzw. in die dafür vorgesehenen Fächer verbracht. „Kum“ war ein künstlich hergestellter Stoff, der alle wichtigen Nahrungselemente enthielt. „Kum“ stand jedem Goor zur Verfügung und wurde kostenlos vom Staat gestellt. Es gab bei den Goor keine Restaurants, wie bei den Menschen, denn die Nahrungsaufnahme war nicht kultiviert.

      Die Häuser der Goor waren villenähnliche Prachtbauten mit großen Grundstücken. Bortan sagte, dass die Goor wegen ihres Bewegungsdranges viel Platz brauchten, deshalb hätten sie relativ große Häuser und Grundstücke. Die Häuser bekäme man auch vom Staat, jede Goor-Familie hätte ein solches Haus. Zum Hausbau verwendete man meistens Holz aus dem Wald. Es gab Bautrupps, die für den Staat arbeiteten und deren Zusammensetzung immer wechselte, jeder war zumindest einmal in seinem Leben, wenigstens für kurze Zeit, Mitglied des Bautrupps. Wir standen auf und liefen zu Bortan nach Hause. Auch er wohnte in einer Villa.

      Als wir uns dem Haus näherten, kamen die beiden Vielfraße angerannt, die ich ja schon unten am Hang kennengelernt hatte. Vielfraße waren offensichtlich die Haustiere der Goor, sie liefen sofort zu Bortan und beschnüffelten ihn. Sie mussten natürlich mit einem für sie geeigneten Futter versorgt werden, dazu hatten die Goor speziell abgerichtete Vielfraße, die in den Wald liefen und dort Tiere rissen, die getöteten Tiere schleppten sie dann nach Hause, wo sie als Futter für die übrigen Vielfraße genommen wurden. Man konnte die Vielfraße nicht einfach in den Wald und sich dort selbst Futter suchen lassen, es wäre unter den Tieren zu Kämpfen gekommen. Bortan sprach zu seinen Vielfraßen in der Sprache, die den Tieren eigen war, das hieß, er sprach eigentlich nicht, sondern gab Laute von sich, die aber so differenziert waren, dass sie Bedeutungszusammenhänge beschreiben konnten.

      Lauha und Herkko, wie die beiden Vielfraße hießen, verstanden Bortan jedenfalls und verschwanden hinter dem Haus. Man war in der Stadt in letzter Zeit dazu übergegangen, eine Elch- und Hirschzucht anzulegen, nur um ausreichend Futter für alle Vielfraße der Stadt zu haben. Eine Gruppe von Goor war damit beschäftigt, Elche und Hirsche zu schlachten und die Vielfraße zu versorgen, die Vielfraße, die zum Jagen abgerichtet waren, versahen aber weiter ihren Dienst.

      Wenn der süße Honigduft, die noch fremd erscheinenden Goor und die Vielfraße nicht gewesen wären, hätte man glauben können, im Nobelviertel einer europäischen Stadt zu sein. Alles