Carsten Bloch

Jägerschnitzel


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in den letzten drei Wochen kein einziges Mal verlassen hatte.

      Auch wenn Stanilov unabhängig war, so arbeitete er dennoch zumeist für die Moskauer Familie. Das machte ihn schon fast zu so etwas wie einem Ehrenfamilienmitglied. Die Kinder bezogen ihn mit in ihre Abendgebete ein, die Erwachsenen plauderten über ihn wie über einen netten Großonkel. Und auch für Vitali war er seit seiner Kindheit das große Vorbild gewesen. So wie Stanilov wollte Vitali auch einmal werden. So berühmt, so cool, so effektiv. Auch wenn er Stanilov noch nie zu Gesicht bekommen hatte, dieses Privileg hatten nur wenige aus der Familie genießen dürfen. Er stellte ihn sich ein wenig vor wie John Wayne. Nur schlanker und jünger. John Wayne mit dem Körper von Arnold Schwarzenegger in Conan der Barbar. Eine Zeit lang hatte er sich daher John Wayne an die Wand seines Zimmers gepinnt und sich eingeredet, dass dies Stanilov sein würde. Es hatte aber nichts geholfen, es blieb John Wayne. Es wurde auch nicht besser, als er unter das Gesicht das geköpfte Foto von Schwarzenegger gehängt hatte.

      Als der Großvater ihm daher den Zettel mit der Telefonnummer in die Hand gedrückt und ihm gesagt hatte, dass dies die Nummer von Stanilov sein würde, war Vitali aufgeregt wie nie zuvor in seinem Leben gewesen. Er durfte Stanilov anrufen. Den Stanilov. Den großen Stanilov. Es war ein großer Vertrauensbeweis gewesen, denn mit Stanilov zusammen arbeiten durfte nicht jeder. Und Vitali wusste, dass er diesmal das in ihn gesetzte Vertrauen erfüllen würde.

      Als er bei Stanilov angerufen hatte, war er so aufgeregt gewesen, dass er kein einziges Wort herausgebracht hatte. Er hatte einige Sekunden vor sich hergestottert und dann den Hörer wieder aufgelegt. Er hatte einige Male tief eingeatmet und sich dann den Text aufgeschrieben, den er seinem Idol erzählen wollte. Anschließend hatte er nochmals angerufen, und es hatte funktioniert. Schon nach wenigen Sätzen waren die Worte nur so aus ihm herausgesprudelt, ohne dass er seine Niederschrift weiter beachten musste. Er war schon fast dabei gewesen, ihm sein ganzes Leben zu erzählen, als er bemerkt hatte, dass anstelle von Stanilov dessen Mutter am Apparat war. Bei der dieser scheinbar noch wohnte und die davon ausging, wie Vitali erfuhr, dass ihr Sohn als Vertreter für Kühlschränke in der Welt unterwegs war. Vitali konnte nur hoffen, dass er nicht zu viel ausgeplaudert hatte, bevor er diesen Irrtum bemerkt hatte.

      Am nächsten Tag hatte er Stanilov aber endlich seine Pläne erläutern und eine Übereinkunft mit ihm treffen können, eine Begegnung zur Absprache für letzte Details. Und zur Übergabe des Geldes.

      Vitali hatte sich bemüht, diesmal alles perfekt zu machen. Nicht nur, um der Familie zu zeigen, was alles in ihm steckte. Es ging auch darum, Stanilov zu imponieren. Wenn Stanilov ihn für die Perfektion seiner Arbeit loben würde, das wäre mehr wert als freundliches Schulterklopfen vom Großvater. Mehr als lobende Worte der Familiengrößen. Mehr als bewunderndes Gemurmel bei Tisch.

      Vitali parkte seinen Mercedes hinter einem BMW am Straßenrand vor dem Gasthaus, in dem er sich mit Stanilov verabredet hatte. Er drehte dem Motor den Saft ab und nahm die Tasche vom Rücksitz des Wagens, die er erst kürzlich im Supermarkt im Sonderangebot erworben hatte. Nicht, dass er normalerweise die Sonderangebote der Supermärkte durchforstete. Doch so eine Supermarkt-Tasche sah schlichtweg unscheinbar aus. Da würde niemand auf die Idee kommen, dass sie 100.000 Euro enthielt. Gebündelt und in kleinen, gebrauchten Scheinen. Das Geld für einen kleinen Auftragsmord.

      Vitali nickte seinem Zwillingsbruder Wladimir auf dem Beifahrersitz zu, und die Zwillinge stiegen aus.

      „Gasthaus Zur fröhlichen Eiderente“, las Wladimir laut und mühsam. Lesen war nicht unbedingt seine Stärke. Wladimir war ohnehin der Meinung, dass man als guter Killer nicht wirklich ein guter Leser sein musste. Es war einfach besser, nach Fotos zu gehen als nach einem aufgeschriebenen Namen auf einem Zettel. Fotos waren eindeutiger. Die aufgeschriebene Adresse konnte falsch sein, das Zielobjekt konnte inzwischen umgezogen sein, was auch immer. Bei Fotos passierte einem so etwas nicht. Als Killer musste man daher nicht lesen können sondern einfach nur gute Augen zum Erkennen der Fotos und der Zielobjekte haben. Deshalb trainierte Wladimir seine Augenmuskulatur, in dem er jeden Tag eine halbe Stunde lang angestrengt auf einen Punkt starrte.

      „Komm, Bruder“, sagte Vitali, und gemeinsam schritten sie auf das Gasthaus zu und betraten die Empfangshalle der Eiderente.

      Die Einrichtung in der Eingangshalle wirkte unmodern und eingestaubt. Nicht unbedingt so, wie es die Fotos im Internet hätten vermuten lassen. Vitali war sich nicht einmal sicher, ob die Fotos tatsächlich in dieser Eingangshalle gemacht worden sind. Was den Kronleuchter anging, so hätte er sich zumindest vorstellen können, dass der inzwischen geklaut worden war. Immerhin war er Russe. Aber es hätte auf jeden Fall eine Menge Arbeit machen müssen, den auf den Fotos erkennbaren Marmorfußboden zu entfernen.

      In der Ecke stand ein ausgestopftes Tier, das für ihn entfernt Ähnlichkeit mit einem tuntigen Fischotter hatte.

      Vitali betätigte die Klingel, die auf dem Tresen der Rezeption zu finden war, und stellte die Tasche neben der Rezeption ab.

      „Was kann ich für Sie tun?“ fragte Hans-Günther freundlich, nachdem er sich aus einem der hinteren Räume kommend an den Tresen gesetzt hatte.

      „Wir suchen Mann der hier hat Zimmer“, sagte Vitali mit seinem russischen Akzent. Er hatte lange an diesem Akzent geübt. Eigentlich war er bereits mit drei Jahren in die Gegend von Frankfurt gezogen. Von daher wäre ihm ein hessischer Akzent leichter gefallen als ein russischer. Aber ein Falls du noch einen letzten Wunsch hast, ist es zu spät dafür, denn diese Pistole wird dich jetzt zu bleihaltigem Sondermüll verarbeiten klang im breiten Hessisch nicht gut. Nicht ängstigend. Das brächte einem höchstens einen Comedy-Preis ein. Würde aber nicht dazu führen, dass der Gegenüber in Angstschweiß ausbrach. Da war der russische Akzent besser für geeignet, der wirkte brutaler, unberechenbarer. Stanilov-mäßiger. „Wir suchen Herrn…“

      Vitali stutzte. Ja, wen denn eigentlich? Stanilov? Ein richtiger Killer würde bestimmt nicht unter seinem echten Namen einchecken, so blöd würde er nicht sein. Und ein Killer wie Stanilov erst recht nicht. Aber welchen Namen hatte er gewählt, um hier einzuchecken?

      Vitali ärgerte sich über sich selbst. Er hatte diesmal alles richtig machen wollen, und dann war ihm doch ein so dermaßen blöder Anfängerfehler unterlaufen. Es war lächerlich. Natürlich hätte er zuvor mit Stanilov absprechen müssen, unter welchem Namen er hier absteigen würde, sonst würde er ihn in dieser Hotelanlage nicht finden können. Dazu war das Hotel mit all seinen Sportanlagen viel zu groß. Wie konnte er so etwas Wichtiges nur vergessen? Scheiße, scheiße, scheiße.

      „Warum du hast nicht Namen aufgeschrieben, du Idiot?“ pflaumte er seinen Bruder an. Natürlich war es nicht dessen Schuld, denn dieser hatte bisher kein einziges Wort mit Stanilov wechseln dürfen. Doch Wladimir die Schuld zu geben war deutlich angenehmer als sich über sich selbst zu ärgern.

      „Du hast telefoniert mit ihm“, schimpfte Wladimir zurück. „Warum du nicht Namen aufschreiben. Bist Arschgeige!“.

      „Den Herrn Petersen vielleicht?“ fragte Hans-Günther entgegenkommend. Mehr Gäste hatte er schließlich nicht, im Moment.

      „Ja, Herr Petersen“, erwiderte Vitali erleichtert. Der Name Petersen war gut. Der war von hier. An der Ortseinfahrt hatte eine Bäckerei so geheißen. Mit dem Namen würde man hier nicht auffallen. Das hatte ein Profi wie Stanilov sofort erkannt. Der war schon ein ganz Ausgebuffter, dass er auf solche Namen kam.

      „Der Herr Petersen sitzt gerade drüben in der Gaststube“, sagte Hans-Günther und zeigte auf die Milchglas-Tür, hinter der sich die Gaststube befand.

      Vitali blickte zur Tür und zurück zu Hans-Günther. Er hätte den Gastwirt in diesem Augenblick am liebsten umarmt vor Begeisterung, aber eine solche Tat hätte an seinem Image kratzen können. So zwitscherte er nur ein „Danke“ und täuschte wie ein erfahrener Football-Profi links an, um rechts an seinem Bruder vorbeizuziehen. Damit er als erster an der Tür und somit als erster bei Stanilov sein könnte.

      Vitali öffnete die Milchglas-Tür und sah sich in dem Raum dahinter um. Es war ein Raum mit fünf rustikalen Tischen aus dunklem Holz, auf denen sich Plastiktischdecken und Plastikblumen befanden. Die Hälfte der