Lisa Ravenne

Spuren im Strom der Zeit


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„Ich versuche es. Alles ist besser als das. Sagen Sie mir, was ich tun soll. Oh, und ich bin Stephen. Und das ist mein Freund Luke.“

      Stephen sah Kayla in die Augen, als er mit ihr sprach. Im gleichen Augenblick, als er zustimmte, geschah auch etwas mit Kayla. Plötzlich sahen Stephens Augen vertraut aus. Etwas hatte sich zwischen ihnen verändert. Da gab es eine Gemeinsamkeit, die vorher nicht dagewesen war. Mit Hilfe ihrer besonderen Fähigkeiten nahm sie es wahr, konnte aber im Moment nicht herausfinden, was dahinter steckte. Sie würde dem später nachspüren. Ihr nachdenklicher Blick wurde wieder klar, wanderte zu Stephen.

       Sie sah ihn die Stirn runzeln. Er wusste tatsächlich nicht, wozu er sich gerade bereit erklärt hatte. Vielleicht war es nur eine Zerstreuung, die ihn davon abhalten würde, in immer den gleichen Gedanken gefangen zu sein, die sich wieder und wieder im Kreis drehten und ihm keinen Weg aus seiner Lage heraus zeigten.

      Auf ein Zeichen von Kayla hin setzte sich Luke auf die nächste Bank.

       „Du kannst mich Kayla nennen. So können wir leichter miteinander reden.“

       Kayla nahm neben Stephen Platz und forderte ihn auf, ihr seine rechte Hand zu geben.

      „Schließe deine Augen und hör nur noch auf meine Stimme.“

       Stephen folgte den Aufforderungen, neugierig darauf, was nun folgen würde.

       Kayla fuhr fort: „Reduziere alles, was du willst oder brauchst auf eine Sache: Atmen. Folge dem Weg deiner Atemluft in deine Lunge und wieder hinaus. Nichts anderes ist wichtig, nur atmen. Finde deinen eigenen Rhythmus.“

       Kayla konnte sehen, wie Stephen sich allmählich entspannte und ließ ihn eine Weile so weiter machen, indem sie ihn mit ihrer Stimme führte.

      Als Stephen halb in Trance war, fuhr sie fort.

       „Jetzt fühl den Schmerz in dir.“ Stephen schnappte nach Luft.

       „Das ist in Ordnung. Alles ist gut. Finde nur den Schmerz in dir. Wo in deinem Körper kannst du ihn sehen? Finde es heraus und sag es mir.“

       Stephen runzelte die Stirn und versuchte offensichtlich angestrengt, es zu sehen.

       Kayla redete weiter. „Lass mich dir helfen. Ist der Schmerz in deinem Kopf … deinem Herzen … deinem Solarplexus? Sag mir, wo.“

       „In meinem Herz.“

       „Wie sieht er aus? Welche Form hat er? Welche Farbe?“

       „Es ist ein großer Feuerball. Er ist gelb und rot. Und es sind schwarze Flecken drin. Es tut weh. Es verbrennt mich von innen heraus.“

      Stephens Stimme klang erstaunt, als ob er nicht erwartet hätte, es tatsächlich zu sehen.

       „Fühle meine Hand. Du kannst diesen Feuerball kleiner machen. Leite einen Teil seiner Energie in meine Hand. Wie viel davon möchtest du hergeben?“

       „Ich kann nicht!“ Stephen stieß die Worte hervor, sein Atem wurde schneller.

       Kayla fragte sanft: „Du kannst nicht oder du willst nicht? Manchmal denken Menschen, dass sie diesen Schmerz verdienen. Dann können sie ihn nicht hergeben.“

      Stephen nickte. Er wusste, was sie meinte.

       „Stephen, du hast um Hilfe gebeten. Es ist dir erlaubt, den Schmerz zu lindern.“

       „Aber wenn ich ihn dir gebe, wird er dir wehtun.“

       „Nein. Das ist nicht mein Schmerz. Er wird mir nicht wehtun. Ich kann damit umgehen. Beobachte den goldenen Faden, der von dem Feuerball zu meiner Hand führt. In dem Maße, wie die Energie fließt, wird der Ball kleiner … und kleiner … und kleiner. Sag mir, wann es genug ist.“

      Einige Minuten später kam Stephens Antwort: „Genug!“

       Kayla fragte: „Wie sieht der Ball jetzt aus?“

       „Er ist nicht verschwunden. Er ist jetzt wie ein Tennisball. Er glüht in orange und rot.“

       „Wie fühlst du dich jetzt?“

       „Der Schmerz ist nicht verschwunden. Aber es ist jetzt einfacher. Ich fühle mich erleichtert.“ Stephen atmete auf. „Wie hast du das gemacht? Es ist erstaunlich!“, rief er aus.

       Kayla lächelte. „Ich hab dich nur einen Teil des Schmerzes weggeben lassen. Aber bis jetzt hast du dein Problem noch nicht gelöst. Und solange du das nicht tust, wird der Schmerz wieder kommen. Es ist nur eine Erleichterung für den Augenblick.“

      Stephen sah sie schockiert an. „Das kann ich nicht noch einmal durchmachen! Es fühlte sich an, als ob eine große Meereswelle über mich hereinbrechen würde. Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Was kann ich tun? Wie kann ich mein Problem lösen?“

       „Du fühlst dich schuldig wegen deiner Mutter. Sei dir dessen bewusst. Und löse dich von dieser Schuld. Du kannst das mit Meditation tun. Aber es braucht einige Zeit, zu erlernen, wie man es macht.“

       Stephen wollte wissen: „Wo kann ich das lernen?“

       Kayla meinte: „Wie ich schon sagte, ich unterrichte Meditationstechniken. Doch für den Augenblick ist es genug. Wenn du mehr tun möchtest, wirst du zu mir nach Hause kommen müssen. Dort kann ich es dir Schritt für Schritt beibringen. Und wenn dein Freund es auch lernen will, ist er eingeladen, mitzukommen.“

      Stephen hatte völlig vergessen, dass Luke immer noch auf der anderen Bank saß. Er sah zu ihm hinüber. Luke schaute zurück, aber er schien verwirrt zu sein, als ob er nicht glauben könnte, was er gerade miterlebt hatte.

       Kayla gab Stephen ihre Adresse und verabschiedete sich. Der Rest lag bei Stephen. Er brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. Wenn er bereit war, würde er kommen. Wenn nicht, konnte Kayla nichts daran ändern.

      Kapitel 2 - Gegenwart

      Kayla nahm ihre Walking-Strecke wieder auf. Das Walken hatte einen festen Termin in ihrem Tagesablauf. Es half ihr, Kraft zu finden. Außerdem konnte man dabei wundervoll abschalten und den Gedanken freien Lauf lassen – sofern nicht besondere Umstände dies verhinderten.

       Was war das gerade gewesen? Sie hatte einem fremden jungen Mann geholfen, aus einer persönlichen Krise herauszufinden und fertig. Eben nicht fertig! Irgendetwas schlich sich hartnäckig immer wieder in ihre Überlegungen ein.

       Was hatte sie überhaupt dazu gebracht, einen Fremden anzusprechen? Wenn man in einer Stadt mit vielen Menschen lebte, gewöhnte man sich an, Abstand zu halten. Viele Menschen nahmen es einem übel, wenn man sich zu sehr für sie interessierte. Aber in diesem Fall hatte sie nicht anders handeln können. Etwas in ihrem Inneren hatte sie geradezu gedrängt, aktiv zu werden. Warum nur?

       Stephens Gesicht tauchte von neuem vor ihrem inneren Auge auf. Es lag etwas Vertrautes darin, etwas lange Vermisstes. Es ließ ihr keine Ruhe. Doch sie kam nicht drauf. Vorerst musste sie es ruhen lassen. Wenn sie sich mit anderen Dingen beschäftigte, würde es ihr bestimmt irgendwann einfallen.

      Kayla beendete ihren Lauf an ihrer Gartentür. Ein Wagen fuhr gerade vor. Nicht gerade das neueste Modell. Kayla wunderte sich immer wieder, wie Liz die alte Klapperkiste überreden konnte, noch einmal anzuspringen.

       Gutes Timing jedenfalls! Liz hatte wieder einmal genau den richtigen Zeitpunkt für einen Besuch gefunden. Nun konnten sie sich einen Tee machen und gemütlich zusammensitzen.

       Kayla und Liz waren schon lange die besten Freundinnen. Sie erzählten sich alles, hatten gemeinsame Interessen. Wenn sie Liz über das Vorgefallene berichtete, konnte sie vielleicht herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte.

      Liz stieg aus dem Wagen, eine kleine Kuchenschachtel in der Hand haltend und wandte sich an Kayla, nachdem sie den Blick registrierte, mit dem ihre Freundin ihren Wagen musterte.

       „Sag keinen Ton über mein Auto! Ich kenne deine Meinung dazu. Mein Wagen spürt, dass ich ihn gern habe. Deshalb macht er auch alles, was ich von ihm will.“