Lisa Ravenne

Spuren im Strom der Zeit


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Tagträumen verloren, dass sie kaum auf ihren Weg geachtet hatte. Als sie eintrat, stellte sie fest, dass sie sich als Einzige dort befand. Also hatten die anderen Anwärter wohl keine Bedenken, ihre persönlichen Dienerinnen gleich auch nachts zu beanspruchen.

      Merit lag noch lange wach. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Shokar. Er war höflich zu ihr und behandelte sie mit Respekt. Das hatte bisher noch nie jemand getan. Aber er wollte sie nicht in seinem Bett haben, aus welchem Grund auch immer.

       Sie war sicher, wenn sie einem der anderen Anwärter zugeteilt worden wäre, dann läge sie heute Nacht sicher nicht hier. Musste sie also nicht froh darüber sein, dass sie Shokars Dienerin war? Sollte er es sich an einem anderen Tag anders überlegen, wäre das so schlimm? Sie musste zugeben, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

      Kapitel 4 - Gegenwart

      Zwei Wochen später bereitete Kayla gerade ihren Nachmittagstee vor, als sie plötzlich die Türglocke hörte. Sie erwartete niemanden, deshalb fragte sie sich, wer das wohl sein konnte. Als sie die Tür öffnete, fand sie Stephen draußen stehen. Er wirkte etwas verlegen, als ob er nicht wüsste, was er hier tat.

      „Hey, Stephen, schön dich wieder zu sehen. Komm rein, du bist gerade rechtzeitig zum Tee hier“, hieß sie ihn willkommen.

       „Hallo. Mrs Monigan.“

       „Oh, nenn mich doch Kayla. Wir kennen uns doch schon.“ Sie versuchte, das Eis zu brechen, indem sie die ganze Zeit redete, während sie zur Küche zurückging. Damit ließ sie ihm keine andere Wahl, als ihm zu folgen.

       Stephen stimmte zu, einen Tee mit ihr zu trinken. Er redete aber immer noch nicht viel. Das schien ein schwieriger Fall zu sein, aber Kayla war weit davon entfernt, aufzugeben.

       „Also, worüber reden wir nun, Stephen?“, fragte sie ihn freundlich.

       „Tut mir leid, aber wenn ich anfange zu reden, könnte es sein, dass ich lange Zeit nicht mehr aufhöre damit. Es ist einfach zu viel“, meinte Stephen zögernd.

       „Mach dir darüber keine Gedanken. Alle sagen, ich bin gut im Zuhören. Nimm dir Zeit.“

       Um ihm Gelegenheit zu geben, den Anfang zu finden, machte sie neuen Tee. Für Stephen war es einfacher zu reden, während sie ihm den Rücken zuwandte.

      Er erzählte ihr, dass er am nächsten Tag einen Flug nach New York bekommen hatte. Aber als er ankam, war seine Mutter schon gestorben. Er fühlte sich deshalb schuldig. Er hatte das Begräbnis organisiert, die Wohnung seiner Mutter aufgelöst und alle Dinge an ihre Freundinnen gegeben, die er nicht wollte. Diese Pflichten hatten ihn beschäftigt gehalten.

       Aber nächste Woche musste er zurück zum Drehort. Und er wusste nicht, ob er das tun konnte. Deshalb, so hatte er gedacht, würde er es vielleicht mit Hilfe einer Meditation schaffen.

       „Natürlich kann eine Meditation dir helfen. Aber was im Augenblick wichtiger ist: Du hast schon den ersten Schritt getan, um dir selbst zu helfen. Du bist hierhergekommen und hast um Hilfe gebeten. Das zeigt, dass du wirklich vorhast, dein Problem zu lösen. Jetzt können wir damit arbeiten.“

      Kayla bat ihn, mit ins Wohnzimmer zu kommen und sich auf den Boden zu setzen. Sie setzte sich ihm gegenüber und zeigte ihm die Meditationshaltung, bei der beide Beine voreinander gelegt wurden. Stephen hatte keine Probleme damit, er war ziemlich gelenkig.

       Kayla begann mit einfachen Atemübungen, bis er zur Ruhe gekommen war. Dann führte sie ihn in eine Meditation, in der sie zwei Fragen stellte.

       „Welchen Job wolltest du immer haben? Und was meinte deine Mutter zu diesem Wunsch?“

       Stephen erzählte, dass er schon immer ein Schauspieler hatte werden wollen, nichts anderes. Und seine Mutter hatte ihn immer ermutigt, seinem Traum zu folgen.

       Kayla sprach sanft zu ihm: „Da ist die Antwort, die du brauchst. Du kannst es tun, weil dieser Wunsch noch immer in dir ist. Deine Mutter wäre stolz auf dich, wenn du in deinem Job gut bist. Also wirst du nächste Woche dein Bestes geben, um sie zu ehren.“

       Stephen sah Kayla erstaunt an. Konnte es so einfach sein? Aber warum fühlte er sich nicht gut dabei?

      Kayla konnte die Zweifel in seinem Gesicht sehen. „Fang jetzt nicht an, dich selbst zu bestrafen, weil du dich immer noch schuldig fühlst! Das ist das Einzige, was dich noch davon abhält, das zu tun, was du wirklich willst!“, verlangte sie.

       „Es ist nicht deine Schuld, dass deine Mutter gestorben ist. Vielleicht hilft es dir, es so zu sehen: Deine Mutter hatte ein erfülltes Leben und als alle ihre Aufgaben erledigt waren, war es Zeit für sie zu gehen. Und vielleicht wird sie eines Tages ein neues Leben mit neuen Aufgaben beginnen.“

       „Was meinst du damit: ein neues Leben? Ihr Leben ist vorbei. Wie kann sie ein neues beginnen?“ Stephen war irritiert.

       Kayla sah ihm fest in die Augen. „Das ist etwas, woran ich glaube. Niemand lebt nur einmal. Du kannst dasselbe glauben oder nicht. Deine Entscheidung.“

      Stephen wusste nicht, ob er das glauben konnte oder nicht. Aber hatte Kayla nicht gesagt, er solle es für sich selbst herausfinden? Er hatte die Wahl.

       „Wie kann man die Wahl haben, ob etwas wahr ist oder nicht? Ich meine, die Wahrheit ist die Wahrheit. Man kann doch nicht einfach überlegen, was man haben möchte.“ Stephen sah verstört aus.

       „Nun, es gibt nicht nur eine Wahrheit. Es gibt so viele Wahrheiten wie es Lebewesen gibt auf dieser Welt“, antwortete Kayla und lächelte ihn an.

       „Wie kann das sein? Ich verstehe es nicht.“

       Kayla gab ihm ein Blatt Papier. „Lies das und du wirst es verstehen. Es ist eine kleine Geschichte, eine Fabel, die ich heute Morgen geschrieben habe. Jetzt weiß ich, warum ich sie schreiben musste.“

       Stephen nahm das Blatt und begann zu lesen.

       Die Farbe des Himmels

      „Was wollte denn der Lehrer von dir?“, fragte der Vater, als er nach Hause kam, seine Frau. „Ich habe gesehen, wie du dich mit ihm unterhalten hast.“ „Ach, es ging nur um eine Kleinigkeit“, antwortete seine Frau unbeschwert. „Unser Sohn hat sich in der Schule geweigert zu wiederholen: Der Himmel ist blau.“ „Und das nennst du eine Kleinigkeit?“, brauste der Vater auf. „Unser Junge muss den Anweisungen des Lehrers folgen. Was soll denn sonst aus ihm einmal werden? Warum hat er sich denn überhaupt geweigert?“ „Unser Sohn hat gemeint, der Himmel sei orange und nur das kann er sagen.“ „Also das ist doch völlig idiotisch. Woher hat er bloß solche Einfälle? Hast du ihm das beigebracht, Frau?“ Das Misstrauen in seiner Stimme brachte sie dazu, ihm einen belustigten Seitenblick zuzuwerfen. „Nein, natürlich nicht“, beruhigte sie ihn. „Ich bitte ihn immer nur, dass er zuerst überlegen und beobachten soll, bevor er etwas sagt. Aber ist das denn wirklich so wichtig? Wenn er meint, der Himmel wäre orange, dann lass ihm doch seinen Kindertraum. Mit der Zeit wird er schon noch merken, welche Farbe der Himmel wirklich hat.“

       Sie blickte nach oben, wo die Sonne ihre letzten funkelnden Strahlen verschickte. „Lass uns lieber zusammen mit unserem Sohn einen Abendspaziergang machen. Er war doch die ganze Zeit mit Lernen beschäftigt. Lass uns ein wenig entspannen.“ Der Vater seufzte und rief nach seinem Sohn. Er wünschte wirklich, der Junge würde allmählich erwachsen werden. In letzter Zeit hatte er oft so seltsame Dinge geäußert.

       Ein Nachbar hatte die ganze Unterhaltung mit angehört, während er in seinem Wohnungseingang lehnte. „Seltsame Ansichten haben die Leute heutzutage. Wollen ihre Kinder belehren und wissen es doch selbst nicht besser.“ Mit kurzsichtigen Augen blinzelte er zu dem grünlichen Leuchten über seinem Kopf. „Dabei weiß doch wirklich jeder, dass der Himmel grün ist. Man braucht nur die Augen auf zu machen.“ Kopfschüttelnd machte sich die Muräne daran, in ihrer dunklen Wohnhöhle zu verschwinden und sich für die Nacht abzulegen.

       Draußen im Meer brachen die Delfine mit ihrem Jungen in der Mitte auf, um das restliche