Gian Carlo Ronelli

Das Tagebuch der Patricia White


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Schwester blieb stehen und sah mich an, als hätte sie jemand anderen in diesem Bett erwartet. Auf ihrem Namensschild stand Cindy Perkins. »Hi«, sang sie, schüttelte dabei den Kopf wie eine Tante, die zum ersten Mal ihre neugeborene Nichte erblickte, und streckte ihre Arme zur Seite. »Haben Sie gut geschlafen?«

      »Na ja …«, antwortete ich vorsichtig, da sie näher kam und ich damit rechnete, von ihr umarmt zu werden. Doch sie senkte ihre Hände rechtzeitig und gebrauchte sie dazu, den Gurt von meinem rechten Handgelenk zu lösen.

      »Warum haben Sie denn nicht geläutet?«

      Die Intelligenteste war Cindy also nicht. »Das kann ich ja jetzt nachholen«, antwortete ich und hob meine befreite Hand zum Rufknopf, der an dem Haltegriff befestigt war.

      »Aber ich bin doch schon da!«, lachte Cindy und schüttelte wieder den Kopf. Sie hatte offenbar meine Botschaft nicht verstanden und ich hatte keine Lust, ihr den Hintergrund meiner Äußerung zu erklären.

      »Wie geht‘s dem Fuß?«, fragte sie.

      »Welchen meinen Sie?«

      Wieder lachte sie laut auf, obwohl ich meine Gegenfrage nicht so witzig fand.

      »Na, dem Fuß mit der Schusswunde«, erklärte sie und stemmte die Fäuste in ihre Taille.

      Eigentlich wollte ich ihr jetzt eine wirklich witzige Antwort bieten. Eine wie »Keine Ahnung. Habe ihn schon länger nicht mehr gesehen«. Auch »Dem Fuß geht‘s gut. Nur dem verletzten Bein geht‘s beschissen« hätte mir gefallen. Mein Favorit war allerdings »Sie können ihn ja selbst fragen. Er ist gleich wieder da. Musste nur mal schnell für kleine Zehen«.

      Aber das Wort Schusswunde machte mich sprachlos.

      Cindy stand da, immer noch die Fäuste gegen die Taille gedrückt, und wartete auf eine Reaktion. Aber ich war wie gelähmt. Jemand hatte mir in den Oberschenkel geschossen! Diese Erkenntnis vernebelte mein Gehirn und ließ keinen vernünftigen Gedanken zu. Vorerst. Dann aber wurde mir klar, dass ich nicht erst seit dem Motel verfolgt und gejagt wurde. Auch vor meinem Gedächtnisverlust musste ich bereits auf der Flucht gewesen sein, und dass meine Verfolger nicht mit sich spaßen ließen, hatten sie am Beispiel des Mexikaners eindrucksvoll demonstriert. Sie wollten mich töten. So viel stand fest. Nachdem sie die Information aus mir herausgepresst hatten, hinter der sie her waren.

      Wo sind sie?

      Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich ihnen antworten sollte.

      Das Päckchen.

      Ich hatte es in der Praxis an mich genommen und fürchtete, dass es während meiner Bewusstlosigkeit den Besitzer gewechselt hatte und ich einmal mehr nicht erfuhr, was ich dieser Therapeutin geschickt hatte. Befanden sie sich in dem Päckchen?

      Aber es war eine andere Frage, die mich traf, wie diese verfluchte Kugel meinen Oberschenkel: Wie lange würde es dauern, bis meine Verfolger herausfanden, dass ich in diesem Krankenhaus lag?

      Nicht besonders lange.

      Noch größere Sorgen bereitete mir der Gedanke, dass bei einer Schusswunde vermutlich eine Meldung an die Polizei erfolgen würde. Und nachdem in meiner Wohnung dieser tote Mann lag, würden beim NYPD sämtliche Alarmglocken schrillen, wenn ihnen die Schussverletzung eines Jack Reynolds gemeldet wurde.

      Ich musste hier verschwinden.

      Doch zuerst musste ich Cindy antworten. Und zwar so, als würde mich die Information einer Schussverletzung nicht sonderlich überraschen. Aber was hätte ich gesagt, wenn ich davon gewusst hätte? Ich hatte keine Ahnung. Daher beschloss ich, das Thema zu wechseln.

      »Haben die Sanitäter mein Päckchen mitgenommen?«

      »Ein Päckchen?«, wiederholte Cindy, als hätte sie dieses Wort heute zum ersten Mal gehört.

      »Ja, ein braunes Päckchen mit meinem Namen darauf.« Und das war nicht einmal gelogen. Dass der Name als Absender auf das Papier gekritzelt worden war, würde auf den ersten Blick nicht auffallen. Und falls doch – Cindy würde es auf gar keinen Fall auffallen. Aber ihre Augenbrauen, die sie tief in ihr Gesicht gezogen hatte, machten mir keine große Hoffnung. Sie schien sich schon mit dem Begriff Päckchen schwer zu tun, geschweige denn mit einem, auf dem ein Name geschrieben worden war.

      »Ach, das Päckchen!«, rief sie dann zu meinem Erstaunen laut aus.

      »Genau«, sagte ich. Vielmehr fragte ich es, in der Hoffnung, Cindy würde mir dann ohne Umschweife erklären, was damit passiert war.

      »Mit Ihrem Namen darauf.«

      »Genau?«

      »Natürlich!« Sie klopfte mit der Hand auf den dünnen Stirnstreifen über ihren Augenbrauen. »Es ist …«

      Weiter kam Cindy nicht. Sie blickte zu meinem Bettnachbarn. Er begann mit hohlem Krächzen zu zucken, als hätte jemand eine Starkstromleitung an seinen Zehen angeschlossen. Zu den Zuckungen kamen ruckartige Drehbewegungen des Oberkörpers nach links und rechts, wobei der Kopf mit etwas Verzögerung nachgezogen wurde. Die Bettdecke rutschte vom Oberkörper. Vielleicht hatte der Mann sie auch nach unten gezogen, denn plötzlich waren knöchrige Arme mit großen schwarzen Flecken sichtbar. Die abgemagerten Hände zitterten zum Kopf und rissen den Beatmungsschlauch aus dem Rachen, mit einer Geschwindigkeit, die man von Knochen, die nur durch Haut zusammengehalten wurden, nicht erwarten würde. Der Mann hustete. Ein Husten, der Luft aus dem Körper transportierte. Das Einatmen fehlte. Er fuhr mit seinen Fingern zum Hals und umfasste ihn, bäumte sich auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen in unsere Richtung.

      Cindy rannte um das Fußende des Bettes und griff nach dem Beatmungsschlauch. Gleichzeitig drückte sie einen gelben Knopf an der Wand, der einen gellenden Piepton auf dem Gang auslöste.

      Sie hielt den Kopf des Mannes mit der linken Hand und versuchte, ihm den Schlauch in den Mund zu stecken. »Aufmachen!«, brüllte sie. Der Mann beugte sich mit jedem Husten weiter nach vorne. An jenem Teil des Schlauches, der im Hals des Mannes gesteckt hatte, klebte schwarzrotes Blut. Cindy musste gewusst haben, dass es keinen Zweck hatte, das Leben des Mannes auch nur um eine Sekunde zu verlängern, aber sie versuchte es, und die Überzeugung, mit der sie diesem Mann das Leben retten wollte, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ein Gesicht, das nicht mehr viel mit cartoonartigen Zügen einer bislang unentdeckten Muppets-Figur gemein hatte. Und für einen kurzen Moment überzeugte mich ihre Entschlossenheit, den Mann retten zu können. Bis zu jenem Zeitpunkt, als er den Schlauch durch Wegdrehen des Kopfes verweigerte und die Halsmuskeln deutlich hervortraten. Seine Finger umfassten den Hals. Dann sackte sein Körper zusammen.

      Cindy warf den Schlauch auf das Bett und stemmte sich mit den Handflächen gegen die Brust des Mannes. Begleitet von einem dumpfen Knacken drückte sie gegen die Rippen. »Komm schon!«, schrie sie.

      Die Tür wurde aufgerissen. Zwei Schwestern und ein Mann, vermutlich ein Assistenzarzt, stürzten in den Raum.

      »Herz - und - Atem - still - stand!«, rief Cindy im Rhythmus der Wiederbelebungsversuche.

      Der Arzt blieb vor dem Bett stehen und schüttelte den Kopf. »Sie können aufhören, Cindy.«

      Cindy reagierte nicht. Wieder und wieder drückte sie mit ihrem Körpergewicht gegen den Brustkorb. Der Arzt hielt sie an den Armen. Dann schien Cindy zu verstehen. Bei jedem Druck gegen die Brust quoll Blut aus Mund und Nase des Mannes. Cindy richtete sich auf, starrte auf ihre Hände und schluckte.

      »Es ist gut, Cindy«, sagte er und blickte auf die Uhr. »Todeszeitpunkt: 4:23 nachmittags.«

      Dann war es still im Raum. Nur das Zischen aus dem Beatmungsschlauch zeugte davon, dass die Welt nicht stehengeblieben war. Alle Personen in dem Zimmer starrten auf die Leiche, auf das blutverschmierte Gesicht, die hervorgetretenen Augäpfel und den weit aufgerissenen Mund. Der Arzt gewann als Erster die Fassung zurück. Er ging zur Beatmungsmaschine und drückte auf einen Knopf. Mit einem durchdringenden Piepton stoppte das Zischen.