Gian Carlo Ronelli

Das Tagebuch der Patricia White


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sagte ich beim Vorbeigehen. »Nur Kriminelle.« Der Mann hockte sich hinter einen der Einsatzwagen und nickte mir zu. »Ich muss zum Arzt«, rief ich und deutete auf meine Wunde. Noch ein Nicken, dann starrte er in Richtung Gebäude.

      Im Wagen wähnte ich mich in Sicherheit, auch wenn ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich blickte mich um, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Dennoch wusste ich, dass er mich im Visier hatte. Der Komplize. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er freies Schussfeld hatte.

       Wo sind sie?

      Ich hatte keine Ahnung, was der Mann mit dieser Frage gemeint hatte. Während ich mich im Wagen umsah, als hätte sich die Antwort irgendwo zwischen Handschuhfach und Beifahrersitz versteckt, fiel mein Blick auf den Aufgabeschein von FedEx.

      Das Päckchen.

      Handelte es sich bei sie um Unterlagen? Unterlagen, die ich gestern nach New York schicken ließ?

      Ich fasste nach dem blutbefleckten Stück Papier und las:

       Sandra Berington, 50 4th Street, Manhattan, New York.

      5

       Manhattan, 50 4th Street.

      In Augenhöhe war an der Hauswand eine Messingtafel angebracht mit der Aufschrift Sandra Berington, Physiotherapy. 3rd Floor. Die schwarzen Buchstaben schlängelten sich edel über die golden glänzende Fläche und erweckten den Anschein, dass dieses Therapieinstitut nur den Reichsten der Reichen vorbehalten war. Daher bezweifelte ich, in dem mit glänzendem Spiegelglas verkleideten sechsstöckigen Gebäude weiter als fünf Meter zu kommen, ohne vom Portier umgehend auf die Straße gesetzt zu werden. Letztlich war es der Wagen von FedEx vor dem Eingang, der mich ohne länger nachzudenken die Glastür drücken und die Eingangshalle betreten ließ. Die Fahrerkabine des Lieferwagens war leer gewesen, was mich zu der Vermutung veranlasste, mein Paket würde soeben zugestellt werden.

      Erwartungsgemäß empfingen mich skeptische Blicke aus der Portierloge. Ein Schwarzafrikaner, geschätzte zwei Meter groß – im Sitzen –, starrte mich an, und ich meinte, die Spannung seiner Muskeln unter dem weißen Hemd erkennen zu können.

      »Sandra Berington«, sagte ich hastig. »Ich habe einen Termin.

      »Haben Sie?«, brummte der Portier und richtete sich auf. Zwei Meter fünfzig.

      »Ja. Reynolds«, fügte ich hinzu. »Fire Department von New York City.«

      Der skeptische Blick wanderte zu meinem Bein. Die wulstigen Augenbrauen hoben sich.

      »Genau das ist der Grund für meinen Termin.« Ich ging davon aus, dass der Portier keine Ahnung hatte, was das Wort Physiotherapie genau bedeutete und wandte mich ohne seine Reaktion abzuwarten zu den beiden Fahrstühlen rechts neben der Portierloge. Eine Lifttür öffnete sich und ein Mann in grauem Overall – auf der Brusttasche befand sich die Aufschrift FedEx – stieg aus. Schnell humpelte ich auf die offene Tür zu, stieg in den Fahrstuhl und atmete tief durch, als sich die Tür schloss und der Lift losfuhr.

      Mit einem Ruck stoppte die Kabine im dritten Stockwerk. Kaum hörbar schob die Tür sich zur Seite und gab den Blick auf einen mit hellgrünem Teppich ausgelegten Flur frei. Gegenüber dem Fahrstuhl befand sich eine dunkle Holztür mit der Aufschrift Physiotherapy, darunter stand der Name Sandra Berington.

      Eine Dame mit einem Mädchen an der Hand wartete darauf, dass ich den Lift verließ. Die Kleine drückte sich an die Frau und starrte auf meinen Oberschenkel. Sie zog an den Fingern ihrer Mutter, die den Arm auf ihre Schultern legte. Langsam humpelte ich aus dem Fahrstuhl.

      Außer den beiden war der Gang leer. Auch wenn dieser Umstand mich beruhigen sollte, verunsicherte er mich. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Polizei vielleicht? Ein Sicherheitsteam, bestehend aus Brüdern des Portiers? Es gab viele Möglichkeiten. Aber ein leerer Gang? Damit hatte ich nicht gerechnet.

      Die Frau stieg mit ihrer Tochter in den Fahrstuhl. Der Gang des Mädchens wirkte seltsam. Als würde das Gehirn unkoordinierte Informationen an die Muskulatur schicken, die es dem Mädchen unmöglich machten, geradeaus zu gehen. Ihr Unterleib schien steif zu sein. Diesen Umstand glich sie mit Hin- und Herschwenken des Oberkörpers aus.

      »Was ist?«, fragte die Frau. Verlegen schüttelte ich den Kopf, als mir bewusst wurde, dass ich das Mädchen anstarrte.

      »Nichts«, sagte ich.

      Ich empfand ein Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. Es war kein Mitleid. Keine heuchelnde Traurigkeit. Nein. Es war Respekt. Aufrichtige Hochachtung vor der Kleinen. »Bist ein tapferes Mädchen«, sagte ich zu ihr und lächelte sie an. Sie schien meine Aufrichtigkeit zu spüren. Ihre Augen glänzten und die Lippen bildeten ein Lächeln.

      »Danke, Mister«, sagte sie, kurz bevor die Lifttür geschlossen war.

      »Gern geschehen«, sagte ich leise.

      Ich kannte dieses Gefühl. Diese Situation. Ich hatte sie schon erlebt. Nicht mit diesem Mädchen. Aber mit Kindern. Kinder, mit einer Behinderung. Ich fühlte aufrichtigen Respekt vor ihrer Kraft, mit einem Handikap in unserer Gesellschaft bestehen zu können. Und ich fühlte diesen Drang, ihnen dabei helfen zu wollen. Helfen zu können. Dieses Gefühl schwappte aus meinem vergessenen Leben in die Gegenwart. Auch wenn mein Gehirn mir keine Bilder lieferte, so wusste ich, dass ich eng mit diesen Kindern verbunden war. Sehr eng. Ich wusste nur nicht, auf welche Weise.

      Die Einrichtung des Warteraums war in hellem Holz gehalten. Vier Stühle mit hellblau gepolsterten Sitzflächen standen rechts neben der Tür. Davor ein Couchtisch, auf dem Magazine abgelegt waren. Gegenüber befand sich eine angelehnte Tür. Vermutlich führte sie in das Therapiezimmer. Zwischen Stühlen und Therapiezimmer stand ein halbkreisförmiger Schreibtisch. Der Bildschirm war eingeschaltet. Papier lag in scheinbarem Chaos auf der Tischplatte verstreut. Neben dem Monitor stapelten sich ungeöffnete Briefe. Sie lagen auf einem hellbraunen Päckchen.

      »Ich komme gleich«, rief eine Frau aus dem angrenzenden Raum, begleitet von einem Geräusch, als würde ein Stuhl über einen Holzboden geschoben.

      Ich griff nach dem Päckchen. Sandra Berington, 50 4th Street, Manhattan, New York City, stand in krakeliger Schrift auf einem FedEx Adressenaufkleber, Jack Reynolds war links oben hingekritzelt worden.

      Das Päckchen war etwa zwanzig Zentimeter lang und fünfzehn Zentimeter breit. Etwas Hartes, Flaches war in hellbraunes Papier eingewickelt worden, die Ränder mit breitem Klebeband fixiert. Es wog 0.53 Kilogramm laut Aufkleber. Eine Mappe, war mein erster Gedanke. Mit Unterlagen, die diese beiden Männer in meiner Wohnung gesucht hatten.

      Schritte im Praxisraum. Im Nebenzimmer klingelte ein Telefon.

      »Na, toll!«, schimpfte die Frau. »Einen Moment noch!«, tönte es aus dem Raum, gefolgt von schnellen Schritten und einem gehetzten »Hallo?«

      Ich blickte auf das Päckchen in meiner Hand und beschloss, die Praxis zu verlassen, um etwaigen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Sobald ich mehr über den Inhalt wusste, konnte ich zurückkommen, um festzustellen, inwiefern Sandra Berington mir bei meiner Selbstfindung behilflich sein konnte. Vorsichtig und schnell löste ich das Adressetikett von dem Packpapier, knüllte es zusammen und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden. Für einen Unbeteiligten schien dieses Päckchen nun an mich adressiert zu sein.

      Mein verletztes Bein knickte ohne jede Vorwarnung seitlich weg. Ich versuchte, mich auf der Schreibtischplatte abzustützen und hatte Mühe, mich aufrecht zu halten. Ein anschwellendes Summen machte sich in meinem Kopf breit. Mit zunehmendem Dröhnen begann der Raum sich zu drehen. Die Tür zum Therapiezimmer wurde einen Spalt geöffnet.

      »Ja, da hätten wir einen Termin frei.«

      Ein Mädchenkopf erschien hinter der Tür. Verschwommen, mit jeder Umdrehung des Raumes verschwommener. Aber klar genug, um zu erkennen, dass dieses Gesicht dem kleinen Mädchen aus dem Motel, dem