Gian Carlo Ronelli

Das Tagebuch der Patricia White


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fragte er mit aufgesetzter Höflichkeit, die vermutlich Teil seines Job-Profils war. Ich schüttelte den Kopf. »Mister Reynolds?«

      Ich nickte und sah ein breites Lächeln im Gesicht des Portiers. »Mister Reynolds«, wiederholte er. »Ich habe Sie nicht gleich erkannt. Wohl einen starken Einsatz gehabt?«

      »Ja. Sehr stark.« Ich deutete auf meinen Oberschenkel, während ich auf die Portierloge zuhumpelte. »Arbeitsunfall«, erklärte ich. Nur mit Mühe konnte ich meine Lippen nötigen, etwas Ähnliches wie ein Lächeln zu formen.

      »Sieht schlimm aus«, meinte der Portier und schüttelte den Kopf. »Ich mache Ihnen auf«, fügte er hinzu und drückte auf eine Taste an der Holzwand des Verschlages. Ein kurzes Knacken war von der Eingangstür zu vernehmen.

      »Danke«, sagte ich und nickte dem Mann zu.

      »Werden Sie schnell wieder gesund!«, rief mir der Portier nach. »New York City braucht Sie!«

      Ich hob kurz die Hand und drückte die Tür nach innen.

      Kalte Luft empfing mich in einem Gang, der nach etwa fünf Metern nach links abzweigte. Eine Reihe von Türen zog sich den schwach beleuchteten Korridor entlang. Neben jeder einzelnen war ein Schild montiert, auf dem groß Hillman aufgedruckt war. Darunter befand sich jeweils ein Name. Firmennamen.

      Ich erhoffte Hinweise bezüglich Stockwerk und Türnummer auf dem Wohnungsschlüssel und holte den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche. Neben dem Wagenschlüssel befanden sich noch fünf weitere auf dem Ring. Der Appartementschlüssel war schnell gefunden. Er trug als einziger die Aufschrift Hillman. Darunter stand: 10 und App. 3. 10 musste für das Stockwerk stehen, 3 für die Nummer meines Appartements.

      Ich humpelte den Gang entlang. Ein leises Klingeln beantwortete meine Frage nach dem Fahrstuhl. Schnelle Schritte hallten im Korridor. Ein Mädchen, geschätzte fünfundzwanzig Jahre alt, bog um die Ecke und begann zu lächeln. Sie trug einen grauen Jogging-Anzug und Sportschuhe. Das lange, schwarze Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

      »Hi Jack!«, rief sie. »Alles klar?« Sie lief schnell an mir vorbei und strich mit der Hand über meine Schulter.

      »Hi!«, rief ich zurück. »Klar ist alles klar!« Ich blickte ihr nach und sah sie noch winken, bevor sie in Richtung Ausgang verschwand. Es handelte sich zwar nicht um meine Frau, aber allem Anschein nach musste sie mich mögen. Ich war also keiner dieser anonymen Einsiedler, die einsam in einem Miethaus starben und erst nach Wochen aufgrund des Verwesungsgeruches entdeckt wurden. Diese Erkenntnis beruhigte mich.

      Nach einem Knarren, das im Korridor laut hallte, schnappte die Lifttür hinter mir ins Schloss. Rechts zogen sich Wohnungstüren den Gang entlang. Mit jedem humpelnden Schritt beschleunigte mein Puls. Als ich vor der Wohnungstür stand, raste mein Herz und mit dem Drehen des Schlüssels begann die Welt zu verschwimmen. Ein Klacken. Dann war die Tür entriegelt.

      Ich atmete tief durch und drückte das Türblatt in den Raum.

      »Hallo?«, rief ich und horchte. Kein »Jack?«. Kein »Daddy?«. Nichts. Nur ein muffiger Geruch gepaart mit einer leicht ätzenden Note strömte mir entgegen. Ich betrat das Appartement, bemühte mich, möglichst wenig Geräusche zu machen, obwohl ich mir einredete, dass dies meine Wohnung war und ich dieses seltsame Drücken in der Magengegend nicht zu haben brauchte. Dennoch hatte ich das Gefühl, nicht hier sein zu dürfen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der kurz davor stand, auf frischer Tat ertappt zu werden. Dementsprechend groß war auch der Schreck, als die Tür hinter mir mit einem Knall ins Schloss fiel.

      »Hallo?«, rief ich noch einmal. »Jemand hier?«

      Keine Antwort.

      Der Eingangsbereich war kaum zwei Quadratmeter groß und mit hellem Parkett ausgelegt. Ein schmaler Wandschrank stand rechts neben der Tür. Der Holzboden wechselte unter einem Torbogen von hell in dunkel. Im Gegensatz zum Eingangsbereich wirkte der Boden der Diele abgewohnt und alt, was sich durch ein Knarzen bei jedem meiner Schritte bestätigte. Von dem langgezogenen Vorraum führten insgesamt drei Türen in weitere Räume. Zwei jeweils an den Enden, die dritte gegenüber dem Eingang. In der Tür zu meiner Rechten war Milchglas eingelassen, durch das etwas Licht in die Diele fiel. Der Wohnraum, vermutete ich und ging langsam darauf zu.

      Die Tür war angelehnt. Ich drückte sie auf und musste kurz die Augen schließen. Sonnenlicht blendete. Auch hier bestand der Boden aus dunkelgrauem Holz, dessen Unebenheit durch den Lichteinfall ins Auge stach. Links im Eck stand eine Couch, auf der zwei Personen sitzen konnten. Wie der Boden wirkte sie alt und schmuddelig, aber nicht unbequem. Davor stand ein heller Holztisch mit einem Couchsessel. Gegenüber eine Kochnische, in der sich außer einem Herd mit Kochplatte und einem mit Geschirr gefüllten Waschbecken nur ein schmaler Geschirrschrank und ein Kühlschrank befanden.

      Rechts von der Tür ragte ein raumhoher, weißer Wandverbau hoch, mit Büchern und DVDs in drei Regalen. Daneben stand ein Kästchen. Darauf ein Fernsehgerät und ein DVD-Player – beide hatten wie der Rest des Zimmers offensichtlich schon einige Winter erlebt.

      Alles in allem wirkte der Raum warm und gemütlich. Jedoch wurde mir beim Anblick der bunt zusammengewürfelten Möbel eines klar: Ich hatte keine Familie. Es fehlten Details, die auf die Handschrift einer Frau hindeuteten. Blumenstöcke, Bilder an der Wand, heimelige Vorhänge passend zu Läufern und Teppichen. Es fehlten herumliegende Spielsachen, Kinderschuhe und Frauen-Magazine auf dem Tisch.

      Die zweite Tür im Gang führte ins weiß geflieste Badezimmer. Eine Dusche und ein Waschbecken neben einer Toilette, auf knapp drei Quadratmetern, wobei man während des Verrichtens des großen Geschäftes die Armaturen des Beckens und der Brause ohne Mühe erreichen konnte. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, neben der Armatur lagen Seife, Zahnbürste und -pasta. Darüber war ein Holzregal montiert, worauf ein Kamm und ein Rasierapparat abgelegt waren. Neben dem Spiegel hing ein weißes Handtuch.

      Ich befand mich bereits wieder in der Diele, als ich stutzte. Das Waschbecken. Hatte ich mich getäuscht? Noch einmal betrat ich das Bad. Das Becken war nass. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein. Der Gedanke, ich hätte doch nicht alleine hier gewohnt, ließ Freude in mir aufflackern. Vorsichtig legte ich die Hand auf den Knauf der letzten Tür. Es musste das Schlafzimmer sein. Vielleicht befand sich wer immer das Becken benutzt hatte hinter dieser Tür? Vielleicht schlief meine Freundin und hatte meine Rufe nicht gehört?

      Nach einem leisen Klacken schwenkte das Türblatt in den Raum. Ein Doppelbett. Nur auf einer Seite war die Matratze mit einem Leintuch bezogen. Ein zerknittertes Kissen lag darauf, eine Stoffdecke zurückgeschlagen am Fußende.

      Ein weißer Schrankverbau zog sich von der Tür zur Fensterwand. Die Schranktüren standen offen.

      Neben dem Fenster hing ein Bild. Es zeigte einen neben Betonbrocken knienden Feuerwehrmann, der sich auf seiner Axt abstützte. Sein Gesicht war dreckig, der Helm tief ins Gesicht gerutscht. Diesen Schnappschuss hatte jemand kurz nach einem Großbrand gemacht. Das Bild berührte mich in einer Art, die ich nicht zu beschreiben vermochte. Ich fühlte mit diesem Mann, spürte seine Müdigkeit und den Willen, dennoch weiterzukämpfen. Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, dass ich dieser Mann war. Nicht äußerlich – innerlich. Als würde ich in diesem Moment vor den Trümmern meines Lebens knien und mich zwingen, aufzustehen und weiter zu gehen. Immer weiter – bis ich die Wahrheit gefunden hatte.

      Das verknitterte Kissen und die Decke zeigten mir eines ganz klar: Ich hatte definitiv alleine in dieser Wohnung gewohnt. Die Freude über eine mögliche Mitbewohnerin erlosch und machte einem neuen Gefühl Platz. Einem unangenehmen Gefühl – als zöge sich Gänsehaut über meine Eingeweide, ausgelöst durch einen Wurm aus Eis, der durch meinen Darm kroch. Was immer die Ursache für dieses Gefühl war – es ließ mich augenblicklich über meine Schulter blicken, in die Diele, als würde etwas Bedrohliches von dort in das Schlafzimmer strömen.

      Erst ein paar Sekunden später registrierte ich ein Geräusch. Es schien aus dem Wohnzimmer zu kommen. Als zöge jemand einen altertümlichen Wecker auf. Wieder und wieder.