Gian Carlo Ronelli

Das Tagebuch der Patricia White


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       Kommt dir das nicht bekannt vor, Jack?

      Die Melodie spielte los. Somewhere over the rainbow. Ich sah eine Silhouette am Milchglas der Wohnzimmertür. Deutlich konnte ich einen Lockenkopf erkennen. Der Schatten bewegte sich vor und zurück. Im Takt der Melodie. Zu den Tönen gesellte sich ein weiteres Geräusch. Als rollte ein Reifen über knarzendem Parkett. Und dann eine Mädchenstimme. Singend. »Way up high, there‘s a land that I heard of, once in a lullaby.«

      Meine Hand zitterte, als ich sie auf den Knauf der Wohnzimmertür legte.

      »Somewhere over the rainbow, skies are blue, and the dreams that you dare to dream, really do come true.«

      Ich öffnete die Tür.

      Stille.

      Kein Mädchen. Keine Spieluhr.

      Dafür tauchte dieses verschwommene Bild in meinem Kopf auf. Helle, blaue Augen, weit aufgerissen. Eine Locke in der Stirn. Aus den Augenwinkeln flossen Tränen. Sie glitzerten in feurigem Orange. Nun erkannte ich auch den Mund. Schmerzverzerrt. Schreiend.

      Das Klingeln des Lifts gellte durch das Vorhaus. Kurz darauf hörte ich das Knarren der Lifttür.

       Sie kommen, Jack. Sie werden dich holen.

       Niemand wird mich holen. Es werden nur Nachbarn sein. Oder das Mädchen, das vom Joggen zurückkommt.

       Lauf, Jack! Lauf um dein jämmerliches Leben.

      Schritte hämmerten durch den Gang. Mindestens zwei Personen. Sie kamen näher.

      Ich versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass diese verhasste Stimme in meinem Kopf Recht hatte. Wer immer durch den Gang rannte – wollte zu mir.

      4

      Die Luft atmete sich wie muffige Watte. Meine Lunge forderte tiefe Atemzüge, aber ich wagte nicht, diesem Bedürfnis nachzugeben. Jedes noch so leise Schnaufen konnte mich im Schlafzimmerschrank verraten. Dazu kam ein Gefühl des Ausgeliefertseins, ausgelöst durch die Dunkelheit und die Enge. Nur durch einen Schlitz zwischen den beiden Schranktüren schnitt ein Lichtstrahl durch die Finsternis.

      Mir war bewusst, dass jemand, der mich suchte, früher oder später im Schrank nachsehen würde. Aber es gab diese kleine Restwahrscheinlichkeit, dass die Besucher nichts von meiner Anwesenheit wussten.

      Das Knarren von Schritten in der Diele verriet, dass sie die Wohnung betreten hatten und sofern sie kein direktes Ziel hatten, würden sie so wie ich zuerst den Wohnraum aufsuchen. Das Knarren in der Diele wurde leiser, gefolgt von einer Männerstimme. Gedämpfte Worte drangen durch die Schranktür, zu leise gesprochen, als dass ich sie hätte verstehen können. Die Wohnzimmertür klackte ins Schloss.

      Ein Geräusch. Im Schlafzimmer. Ein Schleifen, als würde eine Person über den Holzboden robben. Dann hastige Schritte, die sich entfernten. In die Diele. Ins Treppenhaus.

      »Da ist jemand!«, schrie ein Mann. Der Türknauf wurde gedreht. »Er ist raus!«

      »Du bleibst hier«, antwortete der andere. Kurz darauf hämmerten wiederum Schritte im Korridor, wurden schnell leiser.

      Immer wieder fragte ich mich, warum ich mich versteckte. Es war meine Wohnung und außer mir hatte hier niemand etwas zu suchen. Doch vermutlich war es diese Stimme in meinem Kopf, diese Panik in meiner Brust und dieses Drücken im Magen, das mir unmissverständlich mitteilte, dass diese Männer mir keinen Höflichkeitsbesuch abstatteten. Sie waren gefährlich. Tödlich. Wie die beiden im Motel. Sofern es sich nicht ohnehin um dieselben Personen handelte.

      Und da war diese andere Sache. Jemand hatte sich im Schlafzimmer befunden. Alle drei Schranktüren waren offen gestanden. Daher musste sich die Person unter dem Bett versteckt haben, als ich die Wohnung betreten hatte. Wer immer dort gelegen war, hatte einen entscheidenden Vorteil: Er hatte das Appartement verlassen. Zumindest erschien mir das in diesem Augenblick vorteilhaft, denn die Schritte in der Diele verrieten mir, dass der Mann näher kam. Es war plausibel, dass er nun, nachdem aus diesem Raum jemand herausgerannt war, nachschaute, ob sich eine zweite Person versteckt hatte. Unter dem Bett.

      Oder im Schrank.

      Dass ich mit meiner Vermutung richtig lag, verriet mir ein leises Knarzen. Ich kannte es, da ich es dreimal gehört hatte – als ich hastig die offenen Schranktüren geschlossen hatte. Demnach hatte der Mann soeben hinter der ersten Tür nachgesehen. Wieder knarzte es. Nummer zwei. In einer Sekunde würde er mich entdeckt haben.

      Ich atmete tief ein.

       Sie werden dich kriegen, Jack. Und dann werden sie dich töten.

       Niemand wird mich töten. Warum sollten sie?

      Aber das weißt du doch, Jack.

      Die Helligkeit blendete, doch konnte ich die Überraschung im Gesicht meines Gegenübers deutlich erkennen. Gefolgt von dem Schmerzensschrei, als meine Faust gegen sein Nasenbein donnerte. Er wankte nach hinten, fiel auf das Bett. Ich stürzte mich auf ihn und erkannte erst jetzt die Waffe in seiner Hand. Mit dem linken Knie fixierte ich die Schusshand, meine Finger krallten sich um den Hals. Blut rann über seine Lippen.

      »Was wollt ihr von mir?«, brüllte ich. Trotz der Panik und dem Schmerz in meinem Bein war mir bewusst, dass der Komplize jeden Moment zurückkommen würde. Spätestens dann war meine Situation aussichtslos.

      Ich drückte meine Finger gegen die Kehle des Mannes. »Was wollt ihr?«, schrie ich ein weiteres Mal.

      Der Mann starrte in mein Gesicht. Die Lippen zitterten. Ich zog mein verletztes Bein nach und versuchte den zweiten Arm zu fixieren. Offenbar hatte der Gegner meine Achillesferse erkannt. Er zog den Arm zurück, und noch bevor ich ihn fassen konnte, donnerte seine Faust gegen meinen Oberschenkel. Für eine Sekunde raubte mir der Schmerz die Sinne. Vermutlich auch das Bewusstsein, da ich von einem Moment zum anderen in die Mündung der Waffe blickte.

      »Wo sind sie?«, zischte der Mann und wischte mit dem Handrücken über seine Oberlippe.

      Ich schüttelte den Kopf. Unbewusst. Vermutlich weigerte sich mein Gehirn, diese Situation als real anzuerkennen. Ich lag in meinem Bett, in meiner Wohnung, in der offenbar ein reges Kommen und Gehen herrschte. Eine Pistole war auf meinen Kopf gerichtet. Ein hagerer Mann in schwarzem T-Shirt, mit kurzen dunklen Haaren und Jeans saß auf meinem Bauch und stellte mir eine Frage, von der er offenbar erwartete, dass ich die Antwort kannte.

      »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, presste ich durch die Lippen.

      »Ich werde dir deine Eier in Streifen schneiden, Arschloch, wenn du mir nicht augenblicklich sagst, wo sie sind.«

      »Wer?«, brüllte ich und versuchte mich aufzubäumen. Der Mann zuckte kurz zurück. »Wer soll wo sein?«

      Die Schusshand begann zu zittern. Das Klingeln des Fahrstuhls hallte durch den Korridor. Der Mann blickte nach hinten. Meine Finger krallten sich um den Lauf der Pistole, drückten die Waffe von meinem Kopf fort. Ich bäumte mich auf, fasste den Arm des Mannes, zog daran, bis er seitlich von mir kippte. Ein Tritt gegen meinen Oberschenkel. Ich schrie. Doch anstatt das Bewusstsein zu verlieren, stieg Zorn in mir hoch. Meine Faust donnerte abermals gegen seine Nase. Er drückte die Waffe in meine Richtung – mit einer Kraft, die ich ihm anhand seiner Statur nicht zugetraut hätte. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ich schlug die Waffe nach unten. Ein Schuss. Ich erstarrte. Der Mann ebenfalls. Ich rollte seitlich weg. Blut floss aus seiner Lende. Die Augen weit geöffnet. Der Blick leer.

      Ich griff nach der Waffe, sprang aus dem Bett, presste mich gegen die Wand und horchte. Jemand musste in die zehnte Etage gekommen sein. Und dieser jemand hatte den Schuss gehört. Wenn es der Komplize gewesen war, dann war er gewarnt. Er würde nicht in das Appartement stürmen. Er würde warten, bis ich in seine Schusslinie kam. Und falls es ein Nachbar gewesen war, dann war mittlerweile die