Carsten Dohme

Forsetas


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Bringen Sie mich eine halbe Meile hinter die Lusitania. Scheffler, übernehmen Sie.«

      »Wollen wir die Schiffbrüchigen an Bord nehmen?«

      »Nein.« Ohne einen weiteren Kommentar verschwand der Kommandant in Richtung Funkraum.

      LUSITANIA

      Der in den Bootsrumpf eindringende Torpedo wirkte auf Lærke wie eine Injektion mit Adrenalin. Sie zitterte am ganzen Leib, während sie sich das Nachthemd abstreifte und in Hose, Pullover und Stiefel schlüpfte. Kaum hatte sie den Südwester übergestreift, flog die Kabinentür auf, und Alexander stand vor ihr. Er hatte sein weißes Jackett gegen die Uniformjacke eines Offiziers getauscht.

      »Fertig?«

      »Fast.«

      Sie stellte die Kombination ein und öffnete den Tresor. Die Mappe mit den Unterlagen und die kleine Schachtel mit den Proben lagen im obersten Fach. Sie verstaute alles in einem Rucksack und warf die Tür des Safes wieder zu.

      »Ich bin so weit.«

      Alexander winkte sie zu sich. »Etwas ist schiefgelaufen. Das Schiff krängt stark nach Steuerbord. Es scheint über den Bug zu sinken. Das war nicht geplant.«

      »Was meinen Sie? Was wird dann aus Thomas?«

      »Der wird es schaffen, das Schiff ist nach den neuesten Standards gebaut. Die haben aus dem Untergang der Titanic gelernt. Ihm wird nichts passieren.«

      Alexander packte sie unsanft am Oberarm. »Aua, Sie tun mir weh.«

      »Entschuldigen Sie, aber wir müssen jetzt los.« Die Zeit läuft uns davon.«

      Sie rannten die Backboard-Promenade entlang bis zum Treppenabgang der dritten Klasse. Lærke blickte sich immer wieder um, in der Hoffnung Thomas vielleicht doch noch zu sehen.

      »Oh mein Gott, Alexander. Schauen Sie. Die Wellen schwappen bereits über den Bug.«

      »Das kann doch nicht das Werk eines einzigen Torpedos sein.« Dann blieb er abrupt stehen. Ihnen quoll ein unablässiger Strom von Menschen entgegen, begleitet von den markerschütternden Schreien der Alten, Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leib zu Tode getrampelt wurden. Hier war kein Durchkommen.

      »Hier lang.«

      Alexander ergriff ihre Hand, machte eine Kehrtwendung, und sie liefen, so schnell es ging, die Außentreppe zum D-Deck hinunter, zum E- und weiter zum F-Deck. Als sie die letzten Stufen springend überwanden, landeten sie in knöcheltiefem eisigem Wasser.

      »Mein Gott ist das kalt.« Es fühlte sich an, als würden tausend Nadeln durch das Leder ihrer Schuhe dringen.

      »Weiter! Wir müssen zum Heck.«

      Sie wateten gegen die Fließrichtung durch eine kalte Brühe aus Öl, Mobiliar und Trümmern, als sich ihnen ein erschütterndes Bild bot. Dort wo sich zuvor Kabinen befunden hatten, waren durch die Explosion der vorderen Kessel die Räume und mit ihnen ihre Bewohner einfach weggefegt worden. Wo vorher Menschen geschlafen und gelebt hatten, brodelte nun eindringendes Meerwasser wie in einem riesigen Kochtopf.

      »Wir müssen wieder hoch«, rief Alexander.

      Sie hasteten die Treppe hinauf. Obwohl Alexander heftig an ihrer Hand zerrte, verspürte sie keinen Schmerz. Der war der blanken Angst gewichen.

      Sie schafften es gerade zwei Etagen höher, als ein hysterisch schreiender Mann ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Kerl versuchte, einer Frau und ihrem kleinen Jungen die Rettungswesten zu entreißen. Ohne zu zögern, schlug Alexander ihm mit der Handkante in den Nacken. Der Mann sackte zu Boden. Alexander bückte sich, half der Frau auf und gab dem völlig verschreckten Kind die Schwimmweste zurück. Lærke streichelte dem weinenden Jungen, der kaum älter als vier Jahre sein konnte, beruhigend über den Kopf.

      »Bring deine Mama in Sicherheit. Da lang!«

      Er schien sie nicht zu verstehen, und die Mutter, in völliger Panik, schnappte sich ihren Sohn und lief mit ihm in die entgegengesetzte Richtung.

      »Nein. Das ist falsch.« Lærke riss sich von Alexander los und rannte hinter den beiden her. Als sie um die Ecke bog, stoppte sie abrupt. Wo sie die zwei erwartet hatte, schoss eine breite Wasserwand durch den weiträumigen Treppenaufgang auf sie zu.

      Sie wurde herumgerissen. Alexander hatte sie eingeholt und zerrte sie nun noch unsanfter als zuvor hinter sich her. Sie gab jeden Widerstand auf. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben. Sie dachte nicht einmal mehr an Thomas. Dafür würde sie die verheulten Augen des Jungen niemals in ihrem Leben vergessen.

      Wenige Minuten später erreichten die beiden das Heck der Lusitania. Bis auf einen Mann, der vor einer Kiste neben den Ankerwinden ein Schlauchboot auffaltete, war das Achterdeck menschenleer. Wer war das? Sie sah Alexander an, der ihr signalisierte weiterzugehen. Als sie wieder nach vorn blickte, wirbelte der Mann herum und zielte mit einem Revolver auf sie. Sie warf die Hände vor das Gesicht. Der Schuss wurde übertönt von dem lauten Zischen der Druckventile, aus denen der Dampf aus den Kesseln strömte. Hinter sich vernahm sie einen dumpfen Aufschlag. Als sie die Augen öffnete und sich umdrehte, sah sie, wie Alexander dem toten Körper eines jungen Matrosen unter die Achseln fasste und ihn zur Reling zerrte. Sie selbst war wie erstarrt, ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr.

      »Alles in Ordnung, Madam? Ich bin Curt Thorn, ein Kamerad von Alexander. Ich werde Ihnen jetzt helfen, von Bord zu gelangen.«

      Sie verstand ihn kaum, so laut pochte das Blut in ihren Schläfen. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und sie konnte ihm nicht antworten. Anstatt ihr die Hand zu reichen, wie es sich unter anderen Umständen geziemt hätte, zog er das Gummiboot zum Heck und befestigte ein Seil an der Backbordankerkette. Das andere Ende band er am Boot fest. Dann wuchtete er es über die Reling. Er winkte sie herbei und half ihr hinein. Sie ruderte wild mit den Armen bei dem Versuch, auf dem schaukelnden Untergrund Halt zu finden.

      »Hinlegen!«, herrschte Curt sie an.

      Alexander kam herbeigeeilt und stieg über die Querstreben der Reling. Curt lief zurück zur Winde und ließ sie an der Ankerkette hinab. Alexander startete den Außenborder und löste die Halteseile. Er sah hinauf und deutete einen militärischen Gruß an. Dann verschwanden sie in der sanften Dünung Richtung Osten.

      HARBOØRE, DÄNISCHE NORDSEEKÜSTE - 4. NOVEMBER 1916

      Der kleine Erich machte sich an diesem tristen Novembertag des Jahres 1916 zusammen mit Hunderten anderer Menschen aus dem dänischen Jütland auf den Weg, einem spektakulären Ereignis beizuwohnen. Vor der Küste von Vejlby war das deutsche U-Boot U-20 gestrandet.

      Die Kälte hatte für ihn nur einen Vorteil. Er musste keine Kniebundhosen mehr tragen, die ihn als das enttarnten, was er war: ein zehnjähriger Rotzlümmel, der permanent auf der Flucht vor dem Teppichklopfer seiner Mutter und dem Ledergürtel seines Vaters war. Oben auf den Dünen fiel ihm ein Fotograf auf. Ob das ein Kriegsberichterstatter war? Bestimmt nicht. Der hatte noch so eine alte Plattenkamera. Auch so ein Gerät, das alle Jahre wieder für Ärger sorgte. Nämlich immer dann, wenn seine Eltern ihn in seinen Matrosenanzug zwängten, ihm einen Mittelscheitel verpassten und er eine gefühlte Ewigkeit für das alljährliche Familienfoto beim Fotografen in Holstebro stillhalten musste. Das letzte Mal hatte er statt »Käsekuchen« »Ameisenscheiße« gesagt, als der Fotograf sie aufforderte zu lächeln. Er handelte sich eine schmerzliche Kopfnuss von seinem Vater ein.

      Er sah auf die Taschenuhr, die er seinem Großvater gemopst hatte. 12 Uhr. Es war so weit. Polizeimeister Janssen aus Lemvig, um den Erich gern einen großen Bogen schlug, machte den vier- bis fünfhundert Menschen am Strand mit Worten und Gesten klar, dass sie sich in Sicherheit bringen sollten.

      Der Kommandant des U-Boots verließ jetzt als Letzter sein Schiff und setzte die Reichsflagge am Turm auf Halbmast.

      Eine Stunde später, Erich hatte sich inzwischen ein Gewehr aus einem Stück Treibholz geschnitzt, herrschte gespenstische