Carsten Dohme

Forsetas


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OF KINSALE, IRLAND – GEGENWART

      1.

      Richard näherte sich der Anlage von der Seeseite. Mit letzter Kraft hievte er sich über die Klippenkante, da stand er auch schon vor dem nächsten Hindernis. Die Reste eines alten Elektrozaunes, dessen dünne Drähte an einigen Stellen weggerostet und scheinbar erst kürzlich durch Stacheldraht ersetzt worden waren, zogen sich rund um das Grundstück. Gehalten wurde das Flickwerk nur von gut drei Meter hohen Zaunpfählen, die an Speere erinnerten und im Abstand von ungefähr fünf Metern aufragten. Zu hoch, um eben mal darüberzuspringen. Er kauerte so lange in geduckter Haltung, bis das Leuchtfeuer über ihn hinweggeglitten war. Jetzt! Richard warf seinen Rucksack auf die andere Seite und stieg die Drähte hoch. Wenn du da hängen bleibst, gibt’s Ärger mit der Frau Gemahlin. Er warf seine Lederjacke über den Stacheldraht und schwang sich vorsichtig hinüber.

      Bis zum Eingang des Lagers des ehemaligen Militärgeländes waren es noch zwanzig Meter, schätzte er. Die alte Holztür befand sich in einem ähnlich maroden Zustand wie der Zaun. Ein Tritt, und die Tür zum alten Marinearchiv flog nach innen auf. Gern hätte er sich hier eine Weile aufgehalten und herumgestöbert, doch ihm saß die Zeit im Nacken.

      Er ließ den Strahl der Taschenlampe durch die Regale wandern und fand, wonach er suchte. Er verstaute einen Aufschlagzünder mit der Nummer vierundvierzig in seinem Rucksack, produziert bei der Betlehem Steel in Pennsylvania, dem Hauptlieferanten von Geschützen für die amerikanischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg.

      Vor einigen Tagen hatte Richard das Ding von der Lusitania geborgen. Der britische Geheimdienst kassierte es wieder ein, wie alles andere, was er gefunden hatte. Damit wollte Richard sich nicht abfinden. Es wäre der gegenständliche Beweis dafür gewesen, dass das Schiff eben doch nicht nur Passagiere, sondern auch Konterbande transportiert hatte. Nach wie vor hatten die Briten ein großes Interesse daran, die wahren Umstände um den Untergang der Lusitania im Verborgenen zu belassen. Richard hingegen hatte sich schon vor vielen Jahren der Aufgabe verschrieben, Licht in das Dunkel dieser Katastrophe zu bringen.

      Als er wieder vor die Tür trat, sah er rechts von sich einen Schatten hinter einen Strandrosenstrauch weghuschen. Zeit zu verschwinden.

      Er legte sich flach auf den Boden und robbte in Richtung des Zaunes. In der nächsten Lücke im Busch entpuppte sich im Lichtschein das, was eben noch eine undeutliche Silhouette gewesen war, als ein ausgesprochen großer irischer Wolfshund. Und der trabte nun direkt auf ihn zu. In der schmerzlichen Erinnerung an die letzte Tollwutspritze in den Bauch entschied er sich für einen schnellen Rückzug. Er sprang auf und rannte los.

      Das musste klappen. Ohne Rücksicht auf die antike Einfriedung trat er im Sprung mit einem Bein den Zaun flach und hechtete hinüber. Noch im Flug wurde ihm klar, dass das keine gute Idee gewesen war. Damit war auch für den Hund das Hindernis beseitigt und gewährte der Bestie freie Bahn in Richtung Waden und anderer Weichteile seines Körpers.

      Wie es kommen musste, rutschte er zu allem Überfluss mit einem Fuß in eine Mulde, strauchelte und landete platt auf dem Bauch. Aus den Augenwinkeln sah er, wie das Tier direkt hinter ihm zu einem gewaltigen Satz ansetzte.

      Im Bruchteil von Sekunden sondierte Richard sein Umfeld in Reichweite seiner Arme auf der Suche nach etwas, mit dem er sich hätte verteidigen können. Nur da war nichts. Als das Tier auf seinem Rücken landete, pressten die geschätzten sechzig Kilo ihm die Luft aus den Lungen. Geifer tropfte ihm in den Nacken. In Erwartung eines kräftigen Bisses warf er seine Hände schützend über den Kopf.

      Nichts passierte. Lediglich die feuchte Nase glitt über seine Hände. Die blöde Töle gab ein paarmal Laut und presste ihn ins Gras. In dieser misslichen Lage am Boden festgenagelt, hörte er das Auflachen einer Frau.

      »Mr Boyle, wenn ich mich nicht irre. Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«

      Das Bellen klang nun mehr nach einer Aufforderung zum Spielen als in irgendeiner Form bedrohlich.

      »Mrs McMullen, Sie auch hier?«

      Sandra McMullen gehörte zur Maritime & Coastguard Agency der britischen Küstenwache, die der Marine unterstellt war.

      »Ich dachte, Ihnen wäre unmissverständlich klargemacht worden, dass Ihr Auftrag beendet ist.«

      Das brachte ihn in die Bredouille. Er wollte auf keinen Fall seine Kollegen mit hineinziehen und schon gar nicht seinen Chef, der ihn mit Nachdruck angewiesen hatte, den Fall zu den Akten zu legen.«

      »Sie ahnen es sicherlich. Ich bin aus privaten Gründen hier.«

      »Ach ja?«

      »Ich möchte mir gern ein Haus in der Gegend kaufen.«

      »Hier?«

      »Ja.«

      »Am Arsch der Welt.«

      »Warum nicht? Hier ist es hübsch ruhig, man hat einen schönen Blick auf das Meer.«

      Sandra unterbrach ihn. »Klar, jetzt wo Sie festgestellt haben, dass in Ihrer Badewanne vor der Tür ein Haufen Schiffschrott rumliegt und auch noch der Zaun kaputt ist, hoffen Sie bestimmt auf einen Schnäppchenpreis. Darf ich mal einen Blick in Ihren Rucksack werfen?«

      »Nope!«

      »Mr Boyle.« Sie kniete sich neben ihn, packte den Hund am Halsband und zog ihn so weit zu sich heran, dass ihre drei Nasen keine zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. Richard ließ sich nicht beirren und sog übertrieben den blumigen Duft ihres Parfums ein.

      »Chanel?«

      Sie schnupperte an ihm.

      »Angstschweiß? Den Rucksack, Mr Boyle.« Sie stand auf und tätschelte dem aufgeregt hechelnden Hund den Kopf.

      »Ich mag Sie, Richard. Warum auch immer. Doch in fünf Minuten tauchen hier ein paar Regierungsbeamte des MI6 auf, die kanadische Umweltaktivisten im Hoheitsgebiet des britischen Empire nur sehr bedingt dulden.« Sie sah hinaus auf das Wasser, über dem das Donnern eines Hubschraubers anschwoll.

      »Es sind eher zwei Minuten.« Sie hielt die Hand auf.

      Richard wusste, wann er verloren hatte. Er nahm den Rucksack vom Rücken und reichte ihn ihr. Der Beweis, der unten im Boot lag, war genauso gut. Die Analyse des Muschelbewuchses auf dem Zünder hätte allerdings den unumstößlichen Beleg dafür geliefert, dass es sich hier um ein Fundstück von der Lusitania handelte. Die Schlacht vielleicht, aber der Krieg war für ihn noch lange nicht verloren.

      »Hau’n Sie ab. Ich halte Ihnen den Rücken frei. Aber ich will Sie hier nie mehr sehen.«

      »Und in dem netten kleinen Fischrestaurant unten in Kinsale?«

      »Eine Minute.« Er rappelte sich auf und kraulte dem Hund das Kinn.

      »Du hast aber ein strenges Frauchen. Wenn du Asyl suchst, einfach dreimal bellen.«

      »Mr Boyle!«

      »Bin schon weg. Bis zum nächsten Mal.«

      Als Richard zwischen den Felsspalten der Steilküste verschwunden war, strich Sandra dem Hund gedankenverloren über den Kopf.

      »Da bin ich fest von überzeugt, oder was sagst du, Rufus?«

      Die HH-65-Dolphin der Küstenwache setzte einige Meter entfernt zum Landen an, und sechs Special Agents des SIS in schwarzen Anzügen sprangen heraus, noch ehe die Maschine den Boden berührte.

      Welch ein Klischee, dachte sie.

      Er ist weg. Hier haben wir seine Spur verloren«, rief sie den herannahenden Männern zu. Sie zeigte auf einen Fußabdruck, den Richards Stiefel im Sand hinterlassen hatten.

      »Verdammt! Wenn er in den Höhlen verschwunden ist, finden wir ihn nie. Was ist mit Ihrem Hund? Kann der keine

      Witterung aufnehmen?«

      Sandra musste den Mann irgendwie ablenken und warf ihm ihre Beute vor die Füße.

      »Im Wasser? Ich glaube, was Sie suchen, befindet