Esther Hazy

Schmetterlingsscherben


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wird!» Rüdiger strahlte, als ihm etwas einfiel. «Hier! Den hab ich im Vorgarten gefunden!» Er hielt mir den baumelnden Engelsschlüsselanhänger entgegen, der mich feindselig anblickte. Ach du Scheiße, das Ding hatte ich komplett vergessen. «Äh… Danke, Paps. Den hab ich… schon gesucht», murmelte ich ausweichend und griff nach dem kühlen Metall, ohne genauer hinzusehen.

      «Demütigend. Zutiefst verletzend. Und wirklich gemein», maulte der Engel vor sich hin. Seufzend vergrub ich ihn in meiner Hosentasche und dämpfte damit immerhin ein wenig den Wortschwall, den mein Vater sowieso nicht hören konnte.

      Der Engel war hartnäckig. Den ganzen Nachmittag über beschwerte er sich über meine grobe Art und mein unfreundliches Wesen und dass er wirklich etwas Besseres verdient hätte.

      «Gott, dann geh doch einfach!», brüllte ich irgendwann nach dem Abendessen, als mir endgültig der Geduldsfaden riss. «Oder halt wenigstens deine verdammte Fresse!!!»

      «Louise? Ist alles in Ordnung bei dir?» Rüdiger klopfte vorsichtig gegen meine Zimmertür und ich fuhr erschrocken zusammen. «Klar, Paps!», rief ich und griff nach meinem Handy, für den Fall, dass er reinkam. «Ich hab nur telefoniert!»

      «Das klang aber nicht so gut?», hakte er vorsichtig nach.

      «Ach, das ist nur jemand aus der alten Schule gewesen», stammelte ich. «Der schuldet mir noch Geld.»

      «Na gut. Aber wenn du Hilfe brauchst oder irgendwie in Schwierigkeiten steckst, würdest du es mir doch sagen, oder?»

      «Natürlich.» Ich lauschte angespannt, bis seine Schritte auf der Treppe verklungen waren und er sich wieder im Wohnzimmer ans Schreiben machte. Mein Vater war Autor, jedenfalls versuchte er, einer zu werden. Bisher hatte er allerdings noch nichts veröffentlicht. Immerhin lief es mit seinem Buchladen einigermaßen, sodass er davon leben konnte.

      «Und jetzt zu dir, du…», knurrte ich leise und starrte den Engel wütend an. «Dich gibt es nicht. Du existierst gar nicht. Ich sehe dich überhaupt nicht.»

      «Na klar gibt's mich!», flötete die Figur und drehte sich einmal um sich selbst. «Ich bin Ramona!»

      Ich stöhnte entnervt auf und warf den Kopf in den Nacken. Was hatte Herr Meineken immer gesagt? Du musst es akzeptieren. Du musst wahrnehmen, dass es ein Teil von dir selbst ist. Und dieser Teil will dir irgendetwas sagen. Hör auf dich. Geh in dich. Und erkenne, dass dieses Wesen nicht existiert.

      Ich hatte es akzeptiert. Ich wusste, dass es nicht real war. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was mir mein Gehirn mit Ramona mitteilen wollte.

      «Ich verspreche, dich nicht nochmal aus dem Fenster zu werfen, wenn du von jetzt an schweigst. Alles klar?»

      Ramona nickte artig und hüpfte vom Schreibtisch aus auf den Boden. Seufzend schmiss ich mich ins Bett und schloss die Augen.

      Keine Ahnung, wieso Lenny Lennard immer noch in diesem Nest rumgammelte. Ich wusste nur, dass ich seinen Anblick nicht viel länger ertragen konnte. Aber immerhin schien er mich nicht erkannt zu haben. Wenn ich Glück hatte, erinnerte er sich gar nicht mehr an mich. Vielleicht musste ich nicht einmal mit ihm sprechen. Ich würde ihm einfach so gut es ging aus dem Weg gehen müssen und könnte dann vielleicht vergessen, dass er überhaupt existierte.

      Kapitel 3

       «Und das ist die Göttin der Jagd und des Winters, Skadi», erklärte Lennard, der neben mir auf dem Boden lag und in seinem Buch über keltische Mythologie blätterte.

       «Wow!», rief ich und strich über die Figur auf dem Papier. «Sie ist wunderhübsch!»

       «So wie du», grinste er jetzt und sah mich an. «Du bist meine Göttin des Winters!»

       Ich kicherte albern. «Aber ich bin doch gar keine Göttin!»

       «Ab heute nenn ich dich nur noch Ska…» Er sah erneut auf den Namen. «Di.»

       «Di?!» Ich lachte erneut und Lennard streckte mir die Zunge raus. «Ska. Meine Ska!»

      Ich war wiedermal die Letzte, die aus dem Klassenraum kam. Herr Aschermann hatte offenbar Gefallen daran gefunden, mich täglich noch länger dazubehalten, um seine pseudopädagogische Lehre bei mir anzuwenden. Wenig erfolgreich, aber er war wirklich beharrlich und durchlöcherte mich mit Fragen, ob es mir gut ginge und was ich den Tag über gemacht hätte. Ich beantwortete sie größtenteils patzig und wenig informativ, aber das schien ihn nicht abzuschrecken. Heute war schon der vierte Tag in Folge, an dem er es versuchte. Ich konnte bloß hoffen, dass er das bald wieder aufgab, wenn er feststellte, dass er aus mir nichts herausbekam.

      Natürlich war keiner der anderen Schüler mehr da, als ich auf den Schulhof trat. Dora hatte sonst immer auf mich gewartet, aber heute musste sie sich beeilen, weil ihre Oma Geburtstag hatte.

      Seufzend humpelte ich also alleine bis zu den Fahrradständern und starrte auf das einzige, noch verbliebene Rad. Jemand hatte beide Reifen davon aufgeschlitzt und die Luft herausgelassen, sodass es nur noch auf den Felgen stand.

      «Spitze», murrte ich, öffnete das Schloss und schob das Rad in Richtung Straße.

      «Hey! Hey, Ska!» Ich zuckte innerlich zusammen und mein Magen verkrampfte sich, als ich diesen Namen hörte. So hatte mich seit Jahren niemand mehr genannt und ich kannte auch nur eine einzige Person, die mich überhaupt jemals so bezeichnet hatte. Einen flüchtigen Moment überlegte ich, ob ich einfach weitergehen sollte und so tun konnte, als hätte ich ihn nicht gehört. Aber mit meinem Gips war ich nicht sonderlich schnell und er hätte mich vermutlich noch vor der Straße eingeholt. Mit einer unguten Vorahnung drehte ich mich also um und sah Lennard auf mich zukommen. Und ich wusste, dass er sich noch genau erinnerte. An alles.

      «Soll ich dich mitnehmen?» Er hielt einen Autoschlüssel in die Höhe und grinste blöd über seine dämliche Visage.

      «Da kriech ich lieber auf allen Vieren nach Hause», antwortete ich bissig und schob das Rad weiter.

      «Wenn du in dem Tempo weitermachst, schaffst du es bestimmt bis zum Anbruch der Dunkelheit», lachte Lennard und ging weiter neben mir her. «Komm schon. Ich fahr da sowieso direkt dran vorbei. Du musst auch nicht mit mir reden.»

      «Lass mich in Ruhe.» Ich hatte jetzt die Straße erreicht und hielt kurz inne, um meinem Fuß eine Pause zu gönnen.

      «Na schön, dann ruf ich deinen Vater an und sag ihm, dass er dich abholen soll», seufzte Lennard und zog eines dieser überteuerten Zwitterdinger zwischen Handy und Minilaptop aus der Tasche.

      «Untersteh dich!», knurrte ich und griff nach dem Ding. Lennard hielt es so hoch, dass ich nicht mehr dran kam, und grinste feixend. «Fährst du mit?»

      «Ich hasse dich», gab ich ihm als Antwort und wendete das Rad, um damit zurück auf den Schulhof und in Richtung Parkplatz zu gehen.

      «Das ist gut», nickte er. «Hass ist immerhin ein Gefühl. Scheint, als wärest du noch kein Vampir.» Er nahm mir das Rad ab und hielt mir die Hand entgegen, damit ich ihm auch meine Schultasche gab. Ich ignorierte die Geste und ging wortlos an ihm vorbei.

      «Du siehst abgemagert aus», rief er und folgte mir.

      «Ich lag fünf Wochen im Krankenhaus, Arschloch», fauchte ich. Lennard hatte mich kurz darauf wieder eingeholt. Er war wesentlich schneller als ich mit meinem Gipsfuß.

      «Das ist aber schon eine Weile her. Geht's dir gut?», fragte er und beäugte mich schräg.

      «Ganz phantastisch.»

      «Okay, blöde Frage.» Er verdrehte die Augen. «Tut mir leid, das mit deiner Mutter…»

      Ich blieb stehen und funkelte ihn hasserfüllt an. «Hast du nicht gesagt, du hältst die Fresse,