Carolin Frohmader

Die Zeitlinie


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mich diese Ansichtsweise zu einem besseren oder schlechteren Arzt gemacht hätte.

      In jener Stunde war ich noch gar keiner, sondern der Enkel, der den Tod seiner Großmutter realisierte.

       ***

      Zu ihrer Beerdigung am folgenden Freitag, kamen einige Trauernde auch aus den Nachbargemeinden rings um Althernau. Dass sie beliebt war, wussten wir, doch die Anzahl der Trauergäste, die sich auf dem einzigen Friedhof der Nachbarschaft eingefunden hatte, war beachtlich.

      Die liebevollen Beileidsbekundungen an meine Eltern und mich nahmen scheinbar keine Ende. Schließlich erbarmte sich Pit meiner und zog mich an der Schulter zu sich. Sein Arm, obwohl er etwas kleiner war als ich, ruhte auf meinen Schultern. Auf der anderen Seite hakte sich Miranda bei mir unter.

      «Es tut mir so leid Linus», sagte sie mit gesenktem Kopf und belegter Stimme. Letzteres war nicht typisch für sie. Obwohl ich nur mit einem Nicken antwortete, wagte sie dennoch einen Blick zu mir und ihre schmalen Augen schienen durch mich hindurch schauen zu wollen, doch sie konnten es nicht. Ihre Asiatische Abstammung war unverkennbar, obwohl ihre Mutter Deutsche ist. Miranda sah genau so aus wie ihr Vater und hatte das Temperament ihrer Mutter.

      «Kommst Du mit zu uns?», fragte Pit während wir bereits den Parkplatz erreicht hatten.

      «Fürchte ich muss nochmal in die Höhle des Löwen», sagte ich und versuchte lustig zu sein, doch beide sahen mich nur betroffen an. «Hey, es ist gut. Es geht mir gut!», fügte ich schnell hinzu. Ganz gelogen war es nicht. Es ging mir wirklich gut. So richtig schien sie gar nicht weg zu sein.

      «Du kannst auch wieder auf die Couch», sagte Miranda und stieß mich an den Arm.

      «Ich weiß, vielleicht komm ich drauf zurück», sagte ich und lächelte unschlüssig.

      Einige der Trauergäste verließen bereits den Friedhof und machten sich auf den Weg zu meinen Eltern. Meine Mutter hatte einen Caterer engagiert, der den Totenschmaus bereits auf langen Buffettischen im Garten unter einem Pavillon angerichtet hatte. Zwischendurch glaubte ich auf einem Familienfest oder einer Hochzeit zu sein. Wie man gute Gastgeberin war, wusste meine Mutter unangezweifelt.

      «Dann kannst Du auch Deine Kiste mitnehmen», rief mit Pit über die Schulter zu. Er öffnete Miranda die Beifahrertür seines alten Fiestas und ich fischte nach meinen Autoschlüssel.

      «Welche Kiste?», rief ich zurück, doch Pit hatte bereits den Motor angelassen und dessen lautes Röhren übertönte einem selbst die eigenen Gedanken.

      Die meisten Gäste hielten sich dezent zurück und beschränkten die Konversation auf das Nötigste und darum war ich ihnen nicht böse. Als nur noch der harte Kern übrig war, Frau Krämer-Lavendel eingeschlossen, ging ich rüber zu Pit in die Backstube. Er hatte den Laden bereits geschlossen als ich ankam, doch der Duft von frischem Brot und Kuchen durchströmte das ganze Haus noch immer.

      «Nimmst Du den Duft noch immer wahr?», wollte ich wissen, als ich die Treppe zum Wohnzimmer hoch stieg. Pit grinste.

      «Jeden einzelnen Tag mein Lieber» und klopfte sich auf den Bauch. «War's noch schlimm? Oder haben Dich die Geier in Ruhe gelassen?», fragte er scherzhaft.

      «Sie haben sich netterweise auf meine Eltern konzentriert.»

      «Immerhin.»

      «Wolltet ihr nicht doch noch rüber kommen? Das Buffet war mal wieder viel zu üppig.» Pit holte Luft und wollte ansetzen doch ich nahm ihm die Worte aus dem Mund. «Ja ich weiß schon, sonst hätte das Ganze für mich nie ein Ende genommen.»

      «Richtig», sagte Pit in einem feierlichen Ton und holte zwei Bier aus dem Kühlschrank.

      «Und während Miranda noch in der Badewanne liegt, stoßen wir zwei beide mal auf Omi an.» Die Kronkorken fielen klirrend auf den Tisch. Pit hob seine Flasche. «Auf unsere Omi! Die viel zu früh von uns gegangen ist. Möge Sie in Frieden Ruhen!»

      «Möge sie in Frieden ruhen», wiederholte ich und wir tranken beide die halbe Flasche in einem Zug aus.

      Etwa vier oder auch fünf Flaschen und eine zu Bett gegangene Miranda später fanden wir uns in alten Kindheitserinnerungen wieder. Während sich Pit auf einem Sitzsack aalte, lag ich halb auf meiner grünen Couch.

      In einem Sommer, als wir etwa fünf oder sechs Jahre alt waren, war unser Großmutter, zum Leidwesen meiner Mutter, auf die grandiose Idee gekommen, die Rutsche im Garten einzuseifen und ans Ende das Planschbecken zu stellen. Wir flutschten wie Zäpfchen die Rutsche hinunter uns ruinierten den Rasen mit Seifenlauge. Wenn ich mich recht erinnere, hat er ein ganzes Jahr gebraucht um sich zu regenerieren. Mochte auch sein, dass meine Mutter einen Gärtner beauftragt hatte, um das braune Stück durch neuen Rollrasen zu ersetzen.

      Umso sicher war ich mir jetzt, dass unsere Oma tatsächlich Tod war und noch eh ich den nächsten Gedanken zu Ende bringen konnte, stieß Pit mich vors Schienbein.

      «Au», protestierte ich.

      Pit holte eine zweites Mal aus und ich zog schnell mein Bein weg. Im nüchternen Zustand wäre das sicher nicht mal als Reaktion durchgegangen.

      Anstatt mich zu treten, schob er mit dem Fuß einen Karton unter dem Tisch hervor. Er sah wahrlich nicht so aus wie von einem Versandhandel.

      Der Karton war gänzlich Schmucklos, keine Aufdrucke, keine Aufkleber. Zusammengehalten wurde er nicht mit Paketband sondern grauer Kordel, mehrfach verknotet. Er war etwas wellig und hatte statt einer braunen Farbe einen Grauton angenommen.

      Er als ich mich direkt über den Karton beugte, der etwa die Größe eines alten Röhrenmonitors hatte, konnte ich die krakeligen Buchstaben sehen, die mit einem schwarzen Stift auf die Oberseite geschrieben worden waren. Dort stand lediglich mein Name: Linus. Sonst nichts. Kein Paketaufkleber, kein Zustellbezirk, den die Zusteller gerne auf die Seite schreiben.

      Obwohl ich angetrunken war, wusste ich sofort, dass er nicht mir gehörte.

      «Mag sein», nuschelte Pit. «Aber es steht Dein Name drauf.»

      Mehr als die eine Augenbraue hoch zu ziehen brachte ich nicht zustande und ließ mich wieder rückwärts auf die Couch gleiten.

      «Hast Du noch Bier da?»

      Nach zwei weiteren Flaschen, und etlichen Kindheitserinnerungen später wollte Pit es aber doch genauer wissen.

      «Mach doch mal auf», forderte er lallend und stieß mit dem Fuß wieder gegen den Karton.

      «Vielleicht sinds nur alte Sachen.» Alt sah der Karton zwar aus, doch ich konnte mich nicht entsinnen ihn je gesehen zu haben.

      Also begann ich an dem oberen Knoten zu nesteln und hob der Karton an selbigen hoch.

      «Schwer isser ja nicht», nuschelte ich merklich. «Kann nicht mehr viel drin sein», schloss ich demnach scharfsinnig.

      Die Knoten verlangten mir an Höchstmaß an Konzentration und Fingerfertigkeit ab. Beides war mir mit meinem Alkoholpegel jedoch fast vollkommen abhanden gekommen.

      Die Deckel des Kartons waren nicht verklebt und klappten leichtgängig nach oben. Der Inhalt war beige. Vielleicht war es irgendwann mal weiß gewesen, doch nun war der Stoff, welcher den eigentlichen Inhalt umhüllte, eher ein Ocker oder Eierschalenbeige. In meinem Kopf begann alles zu schaukeln und es dreht sich nerviger Weise alles nach links. Umso bemühter war ich, das Bündel, welches ebenfalls mit der grauen Kordel verschnürt war, vorsichtig auf den Tisch zu stellen. Doch diesmal gab das Bündel eine quadratische Form frei. Diesmal wollte Pit nicht warten, eh die Knoten der Kordel in mühsamer Kleinarbeit aufgeknüpft hatte, sondern reichte mir eine Schere. Erleichtert griff ich danach und entfernte anschließend auch die Eierschalenhülle. Was uns jedoch dann gegenüber stand, damit hatten wir nicht gerechnet. Genau genommen, konnte ich gar nicht sagen, was genau ich denn erwartet hatte, aber mit Sicherheit etwas, was einen vertrauteren Eindruck gemacht hätte. Einen Gegenstand, den man schon mal gesehen hat, den man vielleicht schon mal benutzt hat. Was allerdings vor uns auf dem Tisch stand, ließ uns beide verstummt dasitzen und es anstarren. Das