nicht hier im Haus wohne.«
»Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!«
Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.
»Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!« Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.
Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:
»Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?«
Sie schüttelte den Kopf. »Halten Sie das für notwendig?«
»Nein – im Gegenteil!« erwiderte er nachdrücklich.
Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.
Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe.«
Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: »Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, daß er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, daß Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoß, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, daß Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge.«
Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.
Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.
»Er ist der einzige Verwandte, den ich habe«, brummte der Alte eines Tages. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten.«
»Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?« entgegnete Leslie.
»Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?« fuhr er sie an.
Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.
Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.
Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.
Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.
»Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«
»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.
»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«
Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.
»Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?«
»Ja, Mister –«
»Chefinspektor Weston – Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«
Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.
Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.
Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.
»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.
»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.
»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«
»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«
Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.
Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung