Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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von unzähligen Erinnerungsfetzen an seine gemeinsame Zeit mit Alissa an, die eine bunte Mischung von irritierenden Gefühlen wachriefen. Gefühle, die auf entnervende Art und Weise zeigten, wie wenig er in dem letzten Jahr nach ihrer Trennung Fortschritte gemacht hatte.

      „Wonach suchen wir also?“, fragte er, um sich selbst von seinen eigenen Gedanken abzulenken. „Um ehrlich zu sein, ich bin noch nicht überzeugt. Atlantis, zugegeben, die Hinweise deuten darauf hin, aber mir fällt es trotz aller Indizien schwer, diesen Mythos als Fakt zu akzeptieren. Ich meine, ist das denn realistisch? Hätte tatsächlich eine Gruppe von Menschen vor uns eine derart überlegene Technologie entwickelt, hätten wir doch längst etwas finden müssen, das darauf hinweist!“

      „Es ist und bleibt unvorstellbar, nicht wahr?“, mischte Morden sich ein. „Aber lassen Sie mich eine gewagte These aufstellen: Vielleicht existieren diese Hinweise tatsächlich, nur haben wir sie in unserer Verblendung und Arroganz nicht gesehen, oder vielleicht auch schlichtweg falsch gedeutet. Wir setzen viel zu oft einen linearen Verlauf der Geschichte voraus. Es ist doch so; wir ignorieren alle Indizien, die dieser Theorie widersprechen, oder die nicht in unser Weltbild passen. Ich behaupte, Unmengen von Beweisen nennen zu können, die wir bislang einfach falsch interpretiert haben. Im Lichte unserer neuen Erkenntnisse würden wir zu ganz anderen Schlüssen gelangen, wenn wir unsere bisherigen Fundstücke völlig objektiv bewerten würden.“

      Er lehnte sich zurück und musterte Jan herausfordernd.

      „Gerade Ihnen als Historiker sollten doch genügend Beispiele einfallen, die mit heutigem Wissensstand nicht erklärbar sind. Der Mechanismus von Antikythera zum Beispiel. Bislang konnten wir nicht schlüssig erklären, wie die Menschen den Apparat mit dem damaligen Wissensstand bauen konnten. Heute würde ich behaupten, Sie sehen die Quelle ihres Wissens auf diesen Fotos.“ Er zeigte demonstrativ auf die Leinwand, auf der immer noch der verschwommene Fleck zu sehen war, in den Patterson und sein Team ihre gesamte Hoffnung legten.

      „Wie? Was für ein Mechanismus?“, fragte Black neugierig.

      „Der Mechanismus von Antikythera ist ein Gegenstand, der aus einem versunkenen Schiff vor der griechischen Insel Antikythera geborgen werden konnte“, erklärte Jan, ohne den Blick von Morden abzuwenden. „Das war Anfang des 20. Jahrhunderts. Die lange Zeit auf dem Meeresboden hatte der Apparatur gewaltig zugesetzt; die Wissenschaftler konnten sich anfänglich keinen Reim darauf machen, wozu der Mechanismus gedient hatte. Alles, was übrig geblieben war, waren geschickt gefertigte Zahnräder aus Bronze, die vermutlich in einem vor langer Zeit vermoderten Holzkasten gesteckt hatten.“ Er seufzte unbestimmt, weil es ihm langsam dämmerte, worauf Morden hinauswollte. „Die Erfindung der Röntgentechnologie hat es letztendlich ermöglicht, dem Apparat sein Geheimnis abzuringen“, ergänzte er und fühlte sich in diesem Moment unglaublich kraftlos.

      Falls tatsächlich möglich, wirkte Morden in diesem Moment noch unsympathischer als ohnehin schon. Sein selbstzufriedenes Lächeln glich einer Provokation, ein Ausdruck grenzenloser Arroganz, mit der er sich selbst zum Gewinner dieser Diskussion kürte. Jan musste seinen Blick von ihm abwenden, um das aufwallende Gefühl der Abneigung zu unterdrücken, als er fortfuhr: „Die Röntgenbilder zeigten ein komplexes Räderwerk, vergleichbar mit einer frühen Rechenmaschine“, fuhr er fort. „Viele Wissenschaftler sind inzwischen zu der Überzeugung gelangt, mit dem Mechanismus eine Art astronomisches Vorhersageinstrument gefunden zu haben.“

      „Das Gerät ist fast 1.900 Jahre alt“, platzte es aus Morden heraus, „aber dennoch deuten Rekonstruktionen darauf hin, dass mit dem Gerät die Bewegungen von Mond und Sonne durch die ägyptischen Tierkreiszeichen präzise vorhergesagt werden können!“ Er lachte kurz auf. „Allerdings ist da noch mehr: Offenbar war der Mechanismus sogar in der Lage, Sonnen- und Mondfinsternisse vorauszuberechnen. Interessanterweise verwendete es dazu eine Technologie, die nach heutigem Wissen erstmalig im 13. Jahrhundert schriftlich belegt und erst um 1828 zum Patent angemeldet wurde: Ein Differenzialgetriebe, also in sich greifende Zahnräder. Damit war das Gerät in seinem Aufbau komplexer als jedes andere bekannte Gerät in den folgenden tausend Jahren.“

      Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich frage Sie: Woher haben die Menschen vor 2.000 Jahren gewusst, wie ein Differenzialgetriebe herzustellen ist? Was hat die Menschen dazu befähigt, eine derart filigrane und komplexe Rechenmaschine herstellen zu können?“ Er lehnte sich nach vorne und senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. „Ich behaupte, sie konnten dabei auf Wissen zurückgreifen, das lange vor unserer Zeit verloren gegangen ist.“ Er nickte demonstrativ in Richtung Leinwand.

      Jan seufzte aufgebracht auf. „Wollen Sie mich nicht verstehen? Dieser Apparat beweist gar nichts! Immerhin suchen wir nach einer Kultur, die offensichtlich bereits vor Tausenden von Jahren die Grenze zum Weltraum durchbrochen haben soll, während der Rest der Menschheit noch damit beschäftigt war, sich mit Steinwaffen die Köpfe einzuschlagen. Sie müssen mehr aufbieten können, als einen oxidierten, alten Kasten mit Bronzezahnrädern, um mich zu überzeugen. Es tut mir leid, aber das will nicht in meinen Kopf! Eine Kapsel auf dem Mond!? Atlantis!? Das kann nur eine Fälschung sein!“ In seinem Eifer war Jan aufgesprungen. Die Überforderung der letzten Stunden machte sich jäh Luft. „Wenn es wahr wäre, müssten über die ganze Erde die Hinterlassenschaften dieser Zivilisation verteilt liegen. Wir müssten praktisch bei jedem Schritt darüber stolpern! Zeichen für Stahl verarbeitende Industrie, Luftfahrt, Städte! Eine derart hoch entwickelte Zivilisation wohnt doch nicht in Höhlen oder Zelten, sondern in massiven Häusern aus Stein und Stahl, die doch wohl ein paar Jahrtausende überdauern würden!“

      Frustriert starrte er in die Runde. In diesem Moment kam es ihm vor, als wäre er der Einzige in der Runde, der sich um einen klaren Verstand bemühte. Der Einzige, der sich anmaßte, die Entdeckung in Frage zu stellen, anstatt sich der betäubenden Umarmung einer bedingungslosen Begeisterung hinzugeben.

      „Stellen Sie sich vor, die Menschheit würde von einem auf den anderen Tag verschwinden. Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, die menschliche Zivilisation könnte vom Antlitz dieser Erde getilgt werden, ohne Hinweise auf ihre großen Errungenschaften zu hinterlassen?“

      „Sie werden lachen, aber genauso ist es“, erwiderte Patterson. „Nach 10.000 Jahren würde fast nichts mehr an uns erinnern. Ganz im Gegenteil, bereits nach 1.000 Jahren wären die meisten unserer Spuren unter dem Staub der Geschichte begraben. Nichts von unserer Technologie ist für die Ewigkeit geschaffen.“

      Seine Stimme wirkte fest und unbeirrt. Kein Irrtum möglich, Patterson war jenseits des Hauchs eines Zweifels überzeugt von seiner Theorie. „Ein Beispiel“, fuhr er fort. „Wie lange würden ihrer Meinung nach unsere modernen Hochhäuser ohne fortwährende Wartung der Witterung Widerstand leisten können?“

      Bevor Jan reagieren konnte, gab er sich die Antwort selbst. „Keine 500 Jahre“, bekräftigte er. „Die meisten unserer Gebäude sind aus Stahlbeton. Beton bröckelt und Stahl rostet. Sobald die ersten Scheiben der Gebäude zerbrochen sind, ist dem Verfall unaufhaltsam Tür und Tor geöffnet. Die einzigen Bauwerke, die eine Chance hätten, längere Zeit durchzuhalten, sind Gebäude unserer Vorfahren. Der Kölner Dom, Notre-Dame, stabile Konstruktionen aus massivem Stein. Aber auch sie werden keine weiteren 10.000 Jahre überstehen.“

      Morden grunzte bestätigend. „Es wird vielen Menschen schwer fallen, die Vergänglichkeit ihres Lebens akzeptieren zu können, aber wir sprechen von Fakten. Unsere Technologie ist nicht für die Ewigkeiten geschaffen. Die Natur würde sich bereits zwei Tage nach unserem Verschwinden Millimeter für Millimeter ihren angestammten Lebensraum zurückerobern. Das einzige, was nach 12.000 Jahren an der Erdoberfläche noch an uns erinnern würde, wären ein paar verstreute, sagenumwobene Geschichten unserer Nachfahren, sowie ein paar Schmuckstücke aus Gold, die nicht der Witterung unterliegen. Und Goldschmuck ist bei aller Liebe kein Beleg für herausragende, technologische Leistungen. Die einzige Möglichkeit, etwas von uns auf Dauer zu bewahren, ist in den geschützten Tiefen von Mutter Erde gegeben. Aber Sie werden selbst zugeben müssen, dieser Aufbewahrungsort ist weder sonderlich offensichtlich, noch leicht zugänglich. Es würde purem Glück entsprechen, wenn unsere Nachfahren tatsächlich über einige unserer Hinterlassenschaften stolpern würden.“

      „Hah!“,