Thomas Pattinger

Krieg und Freundschaft


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diesem Halt die Möglichkeit, sich draußen die Beine zu vertreten. Diese Gelegenheit nutzten Roland und seine Kameraden nur zu gerne. Als sie aus dem Zug ausstiegen, peitschte ihnen sofort bitterkalter Wind ins Gesicht. Solch brutale Kälte hatte Roland selten gespürt, da half selbst der dickste Mantel nur noch wenig.

      Über den Bahnsteig verstreut standen massenhaft russische Frauen, eingehüllt in schäbigen Lumpen, die allesamt diverse Speisen und Getränke anboten. Von allen Seiten kamen sie auf die Männer zu und redeten in gebrochenem Deutsch auf sie ein. Es war zu spüren, dass jede dieser Frauen unbedingt etwas verkaufen wollte, da es wohl die einzige Möglichkeit für sie war, etwas Geld zu verdienen.

      Andi und Roland entfernten sich ein paar Schritte von dem regen Treiben am Bahnsteig und suchten Schutz vor der Kälte in der kleinen Wartehalle des Bahnhofs. Die wenigen Zivilisten, die sich auch darin befanden, warfen verachtende Blicke auf die uniformierten Männer. Roland spürte erstmals, dass sie hier alles andere als erwünscht waren.

      Nach einer Stunde wurde die Fahrt fortgesetzt und ein Ende der Reise war in Aussicht. Essensrationen und Ausrüstung wurden ausgegeben und Einteilungen getroffen. Roland und seine drei Kameraden wurden dem Jäger-Regiment 54 der 100. Jäger-Division zugeteilt, welches in den kommenden Wochen neu aufgestellt werden sollte. Somit waren sie auch Bestandteil der mächtigen 6. Armee. Alle weiteren Informationen sollten am Endbahnhof folgen. Es wurde durchgegeben, dass dieser noch eine weitere Stunde Fahrt entfernt lag.

      Nun wuchs die Anspannung unter den jungen Männern. Alles wurde gepackt, um die Abmarschbereitschaft herzustellen. Fast dreißig Kilo hatte jeder Mann zu tragen. Die dünnen Riemen des Rucksacks schnitten sich durch die große Last tief in die Schultern der Soldaten. Bereit zum Ausstieg standen die jungen Männer am Gang, während der Zug in den Bahnhof von Rossosch einfuhr.

      Die Stadt glich einem Trümmerfeld. Kaum ein Gebäude war von Fliegerbomben und Artilleriegeschützen verschont geblieben. Provisorische Lager und Lazarette säumten das Umfeld des Bahnhofs. Zahlreiche Einheiten und Verbände marschierten umher. Unter ihnen bemerkte Roland einige, die die Spuren des Kampfes am eigenen Leib trugen. Manche hatten Bandagen, anderen fehlte gar ein Arm oder ein Bein. Ihre Uniformen waren schmutzig und sie alle wirkten gezeichnet von zehrenden Strapazen. Bei diesem Anblick lief es so manchem Neuankömmling kalt über den Rücken.

      Unter den soeben Eingetroffenen herrschte ein reges Durcheinander. Ein paar Ranghöhere versuchten sich in dem Tumult einen Überblick zu verschaffen und schrien umher. Es dauerte einige Zeit, bis wieder Ordnung herrschte und alle in Reih und Glied angetreten standen. Die Atmosphäre blieb angespannt. Um nicht noch mehr Zeit am Bahnhof zu vergeuden, wurde die Zuteilung in Züge und Gruppen sehr rasch durchgeführt. Getrennt wurden die Soldaten dabei offenbar auch nach Ort und Zeit der Ausbildung und so meinte es das Schicksal gut mit den vier Österreichern, die zusammenbleiben konnten. Sie wurden einer Gruppe zugeteilt, die unter dem Kommando eines gewissen Oberfeldwebels Schmied stand.

      Auf den ersten Blick wirkte der Vorgesetzte angsteinflößend. Dies lag einerseits an seiner enormen Größe, andererseits daran, dass er äußert mitgenommen vom Dienst an der Front aussah. Seine Uniform war nicht mehr neu und ebenso wie seine Schuhe notdürftig zusammengeflickt. In seinem ungewaschenen Gesicht stand ein Dreitagebart, in dem sich auch schon ein paar graue Haare befanden. Dunkle Ringe unter seinen Augen ließen erahnen, dass er in letzter Zeit nicht sehr viel Schlaf abbekommen hatte.

      Müden Schrittes führte er die Gruppe aus dem Bahnhof hinaus zu einer alten Lagerhalle, die zu einem Schlaflager umfunktioniert worden war. Hier sollten sich die Neuankömmlinge für die erste Nacht niederlassen. Alle weiteren Instruktionen sollten bei Tagesanbruch folgen. Roland suchte sich die erstbeste Pritsche, die einen halbwegs intakten Eindruck machte und ließ an Ort und Stelle seinen schweren Rucksack vom Rücken gleiten. Er zog sich lediglich die Schuhe aus und kroch mit der übrigen Uniform am Leib unter die kratzende Decke. Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis ihm warm wurde. In dieser Nacht war er viel zu müde, um noch weiter über seine momentane Situation nachzudenken. Es galt nun, der Kälte zu trotzen und noch ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen, ehe die Reise ins Ungewisse weitergehen sollte.

      13

      Lange bevor sie geweckt wurden, waren die Soldaten der dritten Gruppe hellwach gewesen. Die eisige Kälte und die Angst vor dem Ungewissen verdrängten sämtliche Müdigkeit aus den noch kräftigen Körpern der frisch Angekommenen und eifrig wurden bereits mögliche Einsatzszenarien diskutiert. Für das Einnehmen des Frühstücks blieb nicht viel Zeit, auf umfangreiche Körperhygiene wurde gänzlich verzichtet. Ein langer Marsch lag an diesem Tag vor ihnen. Noch vor Sonnenaufgang ging es los. Rund dreihundert Männer marschierten schwer bepackt durch den knirschenden Schnee. Der lebhafte Wind peitschte von der Seite in die ungeschützten Gesichter der jungen Männer. Mit aufgestelltem Kragen und umgebundenen Tüchern konnte man sich etwas Abhilfe verschaffen, doch die Natur trotzte den Soldaten bereits vom ersten Schritt auf russischem Boden alles ab.

      Schnell wurde Roland klar, dass dies ein ganz anderes Szenario darstellte, als sie es in der Kaserne gelernt und geübt hatten. Die ersten Eindrücke, die er seit seiner Ankunft gesammelt hatte, bestätigten ihn in der Annahme, dass hier nicht mehr so viel Wert auf Kleinigkeiten gelegt wurde. Es ging schier ums nackte Überleben.

      Die fahle Landschaft hatte, außer einer Menge Schnee, nicht viel zu bieten. So weit das Auge reichte, war es flach, kein einziger Berg erhob sich am Horizont. Roland starrte unentwegt auf die Beine seines Vordermannes. Der monotone Ablauf ermüdete ihn, doch die Kälte tat ihr Bestes, damit Roland wach blieb.

      Beim Einnehmen der Mittagsration wurden die neu zusammengewürfelten Kameraden gesprächiger. Es waren hauptsächlich Deutsche, die diesem Zug angehörten. Auch der Gruppenführer Schmied war Deutscher. Seit fast einem Jahr war er hier an der Front bereits im Einsatz. Ein paar Tage zuvor hatte man ihm seinen lang ersehnten Heimaturlaub gestrichen, weshalb mit ihm an diesem Tag nicht gut Kirschen essen war.

      Der weitere Weg führte sie in ein kleines, von der Wehrmacht besetztes Dorf. Spätabends kamen die Soldaten erschöpft und unterkühlt in dem Örtchen an. Gruppenweise teilten sie sich auf die wenigen intakt gebliebenen Häuser auf. Als Roland und die übrigen Kameraden der zweiten Gruppe ihre zugeteilte Unterkunft betraten, zog ihnen ein Schwall warmer Luft entgegen und es roch nach gekochtem Essen. Andere Kameraden waren bereits seit ein paar Tagen hier und hatten die Bevölkerung in ein paar Gebäuden zusammengetrieben und die übrigen für die Ankunft des neuen Zuges vorbereitet.

      Nach einer ordentlichen Portion Gulasch aus dem Feldgeschirr, ließ der Zugskommandant noch einmal zu einer Befehlsausgabe am Dorfplatz antreten. Die Sonne war schon längst am Horizont verschwunden. Temperaturen weit unter minus dreißig Grad machten das Atmen schwer. Die Ansprache fiel kurz und prägnant aus. Von nun an herrschte Krieg und es war jederzeit mit Kampfhandlungen zu rechnen. Anspannung lag in der Luft, da niemand genau wusste, wo es nun hinging und was die kommende Zeit bringen sollte.

      Die nächsten Tage verbrachte der Zug in diesem Dorf, bis die restlichen Truppen eingetroffen waren und der Nachschub funktionierte. Roland nutzte die Zeit, um sich mit Kameraden zu unterhalten und er lauschte vielen interessanten Erzählungen, die unter bereits länger Dienenden ausgetauscht wurden. Die Gemeinschaft hier war anders als jene bei der Grundausbildung. Der Zug bestand aus Männern verschiedenster Generation. Die Frischlinge, wie die neu Eingezogenen genannt wurden, schauten sich von Beginn an etwas von den Älteren ab. Viele von ihnen hatten bereits Kampf­erfahrungen gesammelt und stießen mit ihren Berichten von der Front bei den Neuankömmlingen auf hellhörige Ohren.

      Roland nutzte die Wartezeit außerdem, um Briefe in die Heimat zu schicken und auch Andi schrieb seinem Vater. Als die beiden eines Abends vor einem bescheidenen Feuer beisammen saßen, ergriff Roland die Gelegenheit, um Andi von der Schwangerschaft Lillis zu erzählen. Er wollte es ursprünglich noch eine Weile für sich behalten, doch er hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen und wer würde sich dafür besser eignen als sein bester Freund.

      Dieser nahm die Neuigkeit mit großer Überraschung auf. Nachdem sie einige Zeit damit zugebracht hatten, die Situation zu analysieren, meinte Andi entschlossen, er wolle der Taufpate werden. Roland