Thomas Pattinger

Krieg und Freundschaft


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       Wir bekommen hier nicht viel davon mit, was draußen passiert, doch habe ich gehört, dass der Vormarsch an der Ostfront ins Stocken geraten ist. Auch wenn die Nachrichten die Kämpfe an den Fronten schönreden, hört man von manchen Vorgesetzten hier doch eine ganz andere, wenn auch unterschwellig vermittelte Sicht der Dinge.

       Ich habe bereits meinen Eltern geschrieben, sie sollen sich keine Sorgen machen, dasselbe bitte ich dich. Besonders vor dem Einschlafen denke ich oft an dein wundervolles Lächeln. Du fehlst mir sehr und es schmerzt täglich mehr, so weit von dir getrennt zu sein.

       In Liebe

       Roland«

      Zusammen mit dem Brief an seine Eltern warf er den Umschlag in die Postbox. Um auf andere Gedanken zu kommen, gab er den Aufforderungen seiner Kameraden nach und schloss sich dem heiteren Kartenspiel an.

      Die Stunden vergingen und es wurde allmählich Abend. Irgendwann ermüdete das immer gleiche Spiel die Kameraden und sie wandten sich anderen Tätigkeiten zu. Während Kainz unter einem Berg von Felddecken auf seinem Bett kauerte und in Gedanken versunken irgendwelche Notizen in sein kleines Büchlein machte, zog Andi einen dicken Mantel über und schnürte seine schweren Stiefel zu.

      »Wo gehst du hin?«, fragte ihn Roland überrascht.

      »Nach draußen, um noch etwas frische Luft zu schnappen und mir ein wenig die Beine zu vertreten.«

      »Warte«, rief ihm Roland kurzentschlossen nach, »ich komme mit.«

      Der trockene Schnee am Boden gab bei jedem Schritt ein dumpfes Knirschen von sich. Die Wolken hatten sich verzogen und der Mond leuchtete hell über dem Horizont, den ein Meer aus Sternen schmückte.

      Die beiden verließen das Kasernengelände und wanderten an einem naheliegenden Waldstück entlang. Als die Lichter der Umgebung langsam verschwanden, offenbarten sich die endlosen Weiten der unzähligen Sterne am Himmelszelt noch viel deutlicher. Es war ringsum still geworden. An einem umgestürzten Baumstamm machten sie Halt und setzten sich darauf. Lange sprachen sie kein Wort und harrten bloß der Dinge. Andi starrte verträumt in den Nachthimmel hinauf.

      »Was bedrückt dich?«, fragte ihn Roland, als er in Andis grübelnde Augen blickte.

      »Ich denke an Mutter. Oft, wenn ich nachts draußen bin, bewundere ich den Sternenhimmel und sehe ihr vertrautes Gesicht vor mir. Irgendwo da oben ist sie jetzt und blickt auf mich herab. Sie beschützt mich und passt auf mich auf. Es mag vielleicht etwas kindisch klingen, aber es ist ein schöner Gedanke.

      Als sie damals gestorben ist, habe ich das alles noch nicht so verstanden. Ich habe nicht realisiert, was mit ihr passiert ist. Sie war plötzlich einfach weg. Vater hat damals zu mir gesagt, Mama wäre jetzt ein Stern, ganz hoch oben am Himmel. Auch wenn ich diesen Stern nicht immer sehen kann, so weiß ich doch immer, dass er da ist.«

      Roland gefiel dieser Gedanke. Stets bewunderte er die Art, wie Andi mit allen Bürden, die ihm das Leben anlastete, umging. Seine Mutter war gestorben, als er noch ein kleines Kind war. Roland konnte sich noch gut an die Beerdigung erinnern. Obwohl er damals sehr klein war, rührte es ihn zu Tränen, wie er Andi und seinen Vater am Grab stehen sah. Sie war eine so herzliche und gute Frau gewesen. Roland war von ihrer immerzu freundlichen Art und der gutmütigen Hilfsbereitschaft, mit der sie den Menschen begegnete, stets beeindruckt gewesen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie so früh aus dem Leben gehen musste.

      So saßen sie noch lange an diesem Abend draußen und redeten über die Vergangenheit und über das, was nun kommen sollte.

      8

      »Meine Herren, Sie haben in den vergangenen Wochen eine anstrengende und lehrreiche Zeit absolviert. Sie haben gelernt, sich wie ein Soldat zu verhalten und wie ein Soldat zu kämpfen. Aus Ihnen wurden stramme, deutsche Männer geformt. Die Ausbildung hat den einen oder anderen nahe an seine physischen aber auch an seine psychischen Grenzen herangeführt und Sie haben ein Gefühl dafür bekommen, wie es da draußen zugeht. Behalten Sie sich dieses Wissen und diese Erfahrungen, denn sie können Ihnen noch von größtem Nutzen sein. Sie haben einen Eid geleistet, dem Sie von nun an verpflichtet sind. Alles Gute und viel Soldatenglück.«

      Roland dachte unmittelbar nach dieser Ansprache des Kommandanten an jenen Eid zurück, den er wenige Tage zuvor abgelegt hatte:

      »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.«

      Gänsehaut kroch an seinen Armen herauf und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, angesichts dieser Worte. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, als er gemeinsam mit den anderen Soldaten seines Zuges an jenem verschneiten Dezembermorgen am Antreteplatz der Kaserne stand. Neben all den Sorgen rund um seine Zukunft überwog in jenem Moment die Vorfreude auf die baldige Heimfahrt. Es wurde den jungen Männern ein Heimaturlaub auf unbestimmte Zeit gewährt. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit kam dieser sehr gelegen.

      Ein gewisses Maß an Wehmut schwang trotzdem mit, da sich nun die Wege der jungen Kameraden trennten. Roland hätte zu Beginn seiner Ausbildung niemals gedacht, dass er an jenem Tag seiner Heimreise etwas anderes als pure Freude empfinden würde, doch nun, da sich alle die Hände zum Abschied reichten, stieg ein Gefühl von Traurigkeit in ihm auf. Während der harten und anstrengenden Zeit waren unter den Soldaten viele Freundschaften entstanden. Solch einen Zusammenhalt hatte Roland noch nicht erlebt und er versprach einigen Kameraden, als er ihnen zum Abschied die Hand reichte, ihnen zu schreiben.

      Dann war er gekommen, der Zeitpunkt der Abreise. Pünktlich rollte der Zug in Frankfurt ab und Roland blickte noch einmal durch das vereiste Fenster auf die vielen Häuser der Stadt, mit der er nun zahlreiche Erinnerungen verband. Im Abteil, das mit denselben Leuten wie am Anreisetag gefüllt war, breitete sich ungeduldige Vorfreude aus. Nun konnte es keiner mehr erwarten, endlich wieder nach Hause zu kommen. Wälder, Wiesen und Dörfer zogen vorbei und langsam ging auch dieser Tag zur Neige.

      In jener Nacht brachte Roland kein Auge zu. Immer wieder malte er sich das Bild seiner Ankunft aus. Am Bahnsteig würde niemand ihn erwarten, da er den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft keinem mitgeteilt hatte. Er wollte seine Liebsten überraschen.

      Die letzten acht Wochen waren für ihn eine lange und harte Zeit gewesen, in der er sich verändert und weiterentwickelt hatte. Gespannt blickte er aus dem Zugfenster in die schwarze Nacht hinaus, um irgendetwas Vertrautes zu entdecken.

      Es war bereits hell, als der Zug dampfend in Linz einrollte. Müde und erledigt und dennoch überglücklich, wieder zuhause zu sein, betraten die sechs Kameraden den Bahnsteig. Nun hieß es, sich von den letzten vier Freunden zu verabschieden. Viel Zeit dazu hatten Roland und Andi nicht, da ihr Anschlusszug bereits wartete und sie diesen unter keinen Umständen verpassen wollten.

      Die letzte Fahrt dauerte nur eine gute Stunde, jedoch wollte diese ganz und gar nicht vorübergehen. Roland spürte, wie die Unruhe in ihm immer größer und größer wurde. Andi wirkte nach außen hin gelassen und doch merkte Roland ihm die Erleichterung an.

      Draußen begann es in dicken Flocken zu schneien. Hier lag bereits wesentlich mehr Schnee als in Frankfurt. Die Landschaft hatte sich verändert, seitdem die beiden losgezogen waren. Nur noch wenige Kilometer trennten sie von ihrem Heimatort. Nie zuvor war Roland so lange von daheim entfernt gewesen. Viel zu früh packten sie ihre Sachen und machten sich bereit zum Aussteigen.

      Die Gegend, welche nun draußen vorbeizog, war Roland vertraut und ein wohliges Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Ort erfüllte ihn. In diesen Momenten hatte er ganz und gar das Vergangene und die ungewisse Zukunft vergessen.

      Der Zug wurde langsamer und rollte schnaubend am Bahnsteig ein. Roland und Andi waren die Einzigen, die ausstiegen. Zu Fuß setzten sie ihre Reise über die bekannten Straßen und Wege fort und weder der dichte Schneefall, noch die Kälte taten ihrer Heiterkeit Abbruch.

      »Riechst