Thomas Pattinger

Krieg und Freundschaft


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»Das ist der Geruch der Heimat.«

      Roland lachte laut und herzhaft. Noch ein Hügel, dann war sein Elternhaus bereits zu sehen.

      »Möchtest du noch schnell mitkommen, um dich aufzuwärmen?«

      »Nein danke, ich will jetzt so schnell wie möglich nach Hause. Wir sehen uns bald, Roland!«

      Sie reichten einander die Hand, dann bog Andi nach links ab. Roland steuerte weiter schnurstracks und schnellen Schrittes auf sein Ziel zu. Die letzten Meter lief er durch den tiefen Schnee. Ein Licht brannte in der Stube und die schwarzen Silhouetten vertrauter Personen zeichneten sich auf den zugezogenen Vorhängen ab.

      Er hatte die Einfahrt erreicht und betrachtete kurz die nackten Obstbäume im Vorgarten, wie sie kahl dem Winter trotzten. Er beutelte sich den Schnee von den Kleidern und holte tief Luft, dann klopfte er entschlossen an die Tür. Schritte waren zu hören, sie wurden lauter und eine Tür zum Vorraum ging auf. Im Schloss drehte sich klackend ein Schlüssel. Jemand drückte die Klinke nach unten und die Tür öffnete sich. Durch den immer größer werdenden Spalt erkannte Roland seinen Vater. Die Blicke trafen sich. Niemand sprach.

      Der Hausherr wirkte zutiefst überrascht. Ihm fehlten die Worte. Einen Moment lang sahen die beiden sich nur an. Roland war überwältigt von der Freude, endlich seinen Vater wieder zu sehen. Er schloss ihn in die Arme und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er wieder zuhause war.

      Als er in die warme Stube eintrat, schallten ihm sofort die begeisterten Zurufe seiner drei Geschwister entgegen. Alle stürmten sie auf ihn zu und umarmten ihn voller Freude. Auch seine Mutter kam schnellen Schrittes in die Stube gerannt und nahm ihren ältesten Sohn herzlich in die Arme.

      Roland hatte keine Sekunde Zeit durchzuatmen, da er von sämtlichen Seiten mit Fragen durchlöchert wurde. Alle wollten sie wissen, was er erlebt hatte und wie es ihm ergangen war. Er war müde und erschöpft von der langen Reise, aber dennoch gab er gerne Auskunft und er genoss es sehr, wieder in seinem vertrauten Umfeld zu sein. Nur noch eines fehlte ihm und das war Lilli. Sie wollte er gleich am nächsten Tag aufsuchen.

      Rolands kleinste Schwester, Sophie, ließ an diesem Tag gar nicht mehr von ihrem großen Bruder ab. Mit ihren fünf Jahren war sie das Küken der Familie. Sie sauste den ganzen restlichen Tag wie wild im Haus umher und erzählte Roland, was sie alles erlebt und gelernt hatte, während er fort gewesen war. Auch sein Bruder, für den Roland immer ein Vorbild gewesen war, löcherte ihn mit Fragen, während seine Mutter das Abendessen auftischte.

      Mit großem Genuss verschlang der heimgekehrte Sohn das köstliche Abendmahl. Nicht nur die vertrauten Geschmäcker, auch das familiäre Umfeld, das ihn umgab, steigerten seinen Appetit auf ein lange nicht mehr gekanntes Maß. Es dauerte noch sehr lange an diesem Abend, bis er zur Ruhe kam und den langen und ereignisreichen Tag verarbeitet hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er schließlich ein.

      9

      Nicht unsanftes Geschrei, sondern das Krähen eines Hahnes weckte Roland an diesem Morgen, wenige Tage vor Weihnachten, aus seinem tiefen Schlaf. Er sah sich um und begutachtete zufrieden sein vertrautes Zimmer. Entspannt schloss er erneut die Augen, drehte sich auf die andere Seite und schlief sofort wieder ein. Erst kurz vor Mittag wurde er ein weiteres Mal wach. Gerne wäre er noch länger im Bett liegen geblieben, doch er hatte an diesem Tag noch einiges vor.

      Zu Fuß legte er die Strecke zu Lillis Haus zurück. Der Schneefall hatte in der Nacht aufgehört und alles rundherum in eine tiefwinterliche Kulisse verwandelt. Strahlender Sonnenschein machte diesen Tag noch schöner, als er für Roland bereits war. Unterwegs traf er auf viele bekannte Gesichter, die ihn grüßten und ihm bereits im Voraus schöne Feiertage wünschten. Er ließ sich aber nie lange aufhalten und setzte seinen Weg zielstrebig fort. Lange hatte er auf diesen Moment gewartet und über die passenden Worte nachgedacht.

      Ganz entgegen seines Plans, kam ihm Lilli schon von Weitem entgegengerannt. Mit Freudentränen in den Augen lief sie durch den hohen Schnee auf ihn zu und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Roland eilte ihr entgegen, sein Herz pochte wild und für den Moment fiel sämtliche Last von ihm ab. Sie fiel ihm um den Hals und drückte sich fest an seine Brust.

      »Endlich bist du wieder da«, schluchzte sie.

      »Ich habe dich so vermisst, Lilli!«

      Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf und musterte ihn eingehend. Er lächelte sie an und gab ihr zu verstehen, dass nun alles in Ordnung war. Sie umhüllte sein Gesicht mit ihren warmen Händen und stellte sich auf die Zehenspitzen, bis sie fast so groß war wie er. Er bückte sich das restliche Stück zu ihr herab und küsste sie zärtlich. Als würde die Welt für einen Moment stehen bleiben, hatte Roland in diesem Moment den Kopf frei von allen Sorgen und Gedanken, die ihn quälten. Wie bereits seine Familie, verlangte auch Lilli einen ausführlichen Bericht über all das Erlebte der letzten Wochen.

      Das Paar ging Hand in Hand durch die verträumte Winterlandschaft spazieren und tauschte Erzählungen der vergangenen Zeit aus. Man konnte fast vergessen, dass in diesen Tagen Krieg herrschte. Doch so befreit und glücklich Lilli auch wirkte, kam sie Roland ein wenig verändert vor. Um die Stimmung nicht zu gefährden, fragte er jedoch nicht weiter nach, sondern genoss die unbeschwerten Stunden dieses Tages mit ihr.

      Erst als es schon lange dunkel war, kehrte er nach Hause zurück. Dort liefen bereits die Vorbereitungen für das bevorstehende Weihnachtsfest. Die kleine Sophie und Rolands sechzehnjährige Schwester Anna backten Kekse. Der betörende Duft von Zimt und Haselnüssen war im ganzen Haus zu vernehmen. Rolands Bruder schnitzte mit seinem Vater an der Krippe. Die Mutter saß in einem Sessel und strickte. Es war ein Bild wie jedes Jahr, nur dieses Weihnachten war für Roland etwas ganz Besonderes. Im Fernen dachte er auch mit ungutem Gefühl daran, dass es vielleicht für längere Zeit das letzte Weihnachtsfest zuhause sein könnte, doch diese Befürchtung verwarf er schnell wieder.

      10

      Die Tage, in denen Roland zuhause war, vergingen jäh und so kam der Heilige Abend eher als geplant. Dieses Fest lief jedes Jahr nach einem bestimmten Ritual ab, das bereits zur Tradition geworden war. Am Vormittag wurde der Christbaum von der versammelten Familie geschmückt und das Haus geputzt. Das Licht einiger Kerzen erhellte die Stube und die Krippe fand einen besonderen Platz auf der Kommode. Die Kinder naschten von den Keksen, während der Vater auf seiner Gitarre spielte.

      Sobald es dunkel wurde, begab sich die Familie an den Tisch. Es wurde musiziert und gesungen und Gedichte wurden vorgetragen. Der Vater las aus dem Weihnachtsevangelium und wie jedes Jahr wurde Nudelsuppe mit Würsten gegessen. Niemand verlor ein Wort über Politik oder den Krieg, es herrschten Frieden und Harmonie innerhalb der mächtigen Mauern des Hofes.

      Irgendwann konnte es Rolands elfjähriger Bruder Fritz nicht mehr erwarten seine Geschenke zu erhalten und so versammelte sich die Familie um den liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum. Roland bekam von seiner Mutter einen Pullover, den sie eigens für ihn gestrickt hatte. Sophie überreichte ihm ein selbstgemaltes Bild, auf dem sie die Familie vor dem Haus abgebildet hatte. Roland genoss die mitmenschliche Herzlichkeit des Augenblicks. Leider hatte er in der Eile nichts vorbereitet, das er verschenken konnte.

      Eine Stunde vor Mitternacht brach die Familie mit Laternen bestückt zur alljährlichen Christmette auf. Sophie durfte noch nicht mit und wurde zuvor schlafen gelegt.

      Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt und Roland erblickte viele vertraute Gesichter unter den Anwesenden. Er grüßte ein paar Freunde durch wohlwollendes Zunicken und nahm neben seinen Eltern Platz. Andächtig lauschte er dem Gesang des Chores und den Worten des Pfarrers, welcher erneut das Weihnachtsevangelium verlautbarte. Den krönenden Abschluss, dem Roland wie jedes Jahr erwartungsvoll entgegeneiferte, bildete das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht«.

      Reihum erloschen nach und nach die Lichter der Kirche zu den zarten Klängen der ersten Strophe, bis lediglich der Schein dutzender Laternen übrigblieb. Erst zögerlich, dann mit zunehmender Begeisterung, schlossen sich immer mehr Menschen dem Gesang an und spätestens am Beginn