Jeannette Kneis

SERUM


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für die Tiefgarage. Ihre Hände umschlossen noch fester und steifer die Businessaktentasche. Ihre Nerven lagen so blank und verletzlich wie Baumstämme ohne schützende Rinde. Im Gewirr aus Angst spürte sie aber auch einen Funken Hoffnung an die Oberfläche dringen, denn ihre Freiheit lag in denkbar greifbarer Nähe.

      Tempo! Schneller! Nun mach schon! Den unliebsamen Gedanken, dass der Aufzug von außerhalb angehalten werden konnte, schob sie genauso schnell zur Seite, wie er sich ihr aufgedrängt hatte. Bis jetzt ging schließlich alles glatt. Wenn nur nicht die elenden Zweifel wären.

      Es dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit, bis das Symbol U1 für die Tiefgarage endlich gelb aufleuchtete und die Türen sich wieder öffneten. Die Erleichterung darüber wich jedoch rasch wieder einer extremen Anspannung. Die Gefahr war noch keineswegs vorüber. Noch immer erwartete sie, auf ein Hindernis zu stoßen, welches sie nicht zu überwinden vermochte. Menschen ohne Mitleid für den Nächsten, mit tödlichen Waffen in den Händen, denen sie völlig ausgeliefert wäre. Ohne Chance auf Entkommen. Ausdruckslose Gesichter mit kalten Augen. Schüsse hallten wider. Sie wurde brutal zurückgeschleudert, als die Geschosse sich mit zerstörerischer Gewalt durch ihren Leib bohrten. Sofort quoll und spritzte dunkelrot Blut aus den Schusswunden, die sie an verschiedenen Stellen ihres Oberkörpers unerträglich schmerzhaft trafen, ihr die kostbare Besinnung für immer raubten; und sie trieb mit starrem Blick dahin, in einen Abgrund ohne Wiederkehr. Ein mörderischer Tagtraum, der ihr für einen erschreckend langen Moment den lebensnotwendigen Atem raubte. Sie schluckte schwer und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Auf gar keinen Fall durfte sie jetzt die Kontrolle über sich verlieren. Bleib stark! Sie musste sich ausnahmslos auf ihre Mission konzentrieren. Alles andere ausblenden. Das sagte sich so leichthin. Der enorme psychische Druck der auf ihr lastete sprengte einfach jegliche Skala. Die Frau trat aus dem Aufzug, die Türen schlossen sich und der Lift sank automatisch wieder hinab in die schwer bewachte Unterwelt des Gebäudes. Wieder richteten sich elektronische Augen auf sie. Überall diese verfluchten Kameras, dachte sie bei sich. Der kurze, sehr schmale und videoüberwachte Gang war schnell durchschritten. Ohne inne zu halten machte sich die Frau daran, die von innen und außen codierte Sicherheitsstahltür mit der entsprechenden Zahlenkombination und ihrem rechten Daumenabdruck zu öffnen. Zwei Sekunden des Schreckens verstrichen in einem gefühlten Zeitraum von Minuten. Ein kleines Lämpchen leuchtete auf und gab …

      Ungewollt durchfuhr sie ein eiskalter Schauder.

      ... den Weg frei. Tiefgehende Erleichterung.

      In der grauen, kühlen Tiefgarage herrschte gedämpfte Stille. Automatisch flackerte das Neonlicht auf, als sie weiter vordrang. Der Klang ihrer Absätze wurde mehrfach und schaurig von den Wänden der unterirdischen Halle zurückgeworfen. Mehrere Fahrzeuge befanden sich in ihrer Sichtweite. Zwei von denen, luxuriöse Sportwagen, konnte sie ihren noch arbeitenden Kollegen zuordnen. Sie würden in wenigen Minuten folgen. Die anderen, weniger kostspieligen Wagen gehörten dem zahlenmäßig überlegenem Sicherheitspersonal. Ihr eigenes stand nicht weit von ihrer jetzigen Position. Nur ein paar Schritte. Sie blickte sich instinktiv um, als sie irgendwoher ein leises Knacken und Rascheln vernahm. War ihr doch jemand gefolgt? Sämtliche Härchen auf ihrer Haut schienen sich innerhalb einer Sekunde aufzurichten und stachen auf ihr Nervenkostüm ein. Nein! Nicht jetzt! Sie hatte es doch fast geschafft! Ihr Herz raste und pumpte. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Oh Gott, ihr wurde beinah schwindlig davon. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt. Energisch versuchte sie sich zu beherrschen. Sie durfte sich keinen Fehler leisten. Dafür hatte sie zu viel riskiert. Ihr Leben riskiert! "Hallo?" rief sie mit viel zu viel Angst in der Stimme.

      Niemand gab ihr eine Antwort.

      Eine Überwachungskamera summte leise in der Nähe ihres Kopfes, um ihren Blickwinkel zu verändern. Sie empfand das Geräusch als viel zu laut und aufdringlich. Und furchteinflößend. Wie gierig das Ding sie anstarrte. Ihr Körper bebte.

      Wieder diese unheimliche Friedhofsstille.

      Etwas zu hastig lief sie auf ihren Wagen zu, als wäre er eine Art Rettungsboje, während sie hektisch und mit eiskalten Fingerspitzen den Autoschlüssel aus der Manteltasche hervor nestelte. Unwillkürlich stieg die Nervosität in ihr wieder an, jetzt, wo sie sich schon fast in Sicherheit wähnte. Mit einem Fingerdruck auf die in Wagenfarbe lackierte Fernbedienung und einem kurzen, aber intensiven Doppelton entriegelte sich die Fahrertür. Mit einer einzigen fließenden Bewegung, schon hunderte Male vollzogen, stieg sie in den flachen, deutschen Sportwagen. Die Tasche legte sie mit einem beschützenden Blick auf dem Beifahrersitz ab, während sie mit der linken Hand den 385 PS starken Motor startete. Sofort erwachte das wilde Tier unter der edlen Karosserie und spie sein dunkles, dumpfes Röhren heraus, welches in jede Ecke der Tiefgarage drang. Noch schnell den Sicherheitsgurt und das Abblendlicht. Ihre routinierten Bewegungen kamen ihr allesamt viel zu langsam vor, so, als hindere eine zähe Masse sie daran, schneller zu agieren. Dann rauschte sie mit Adrenalin geladenem Fuß zum Ausgang. Niemand hielt sie auf. Sie blickte hektisch in den leicht vibrierenden Innenrückspiegel. In die Außenspiegel. Da! Verdammt! Sie schluckte vernehmbar den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. An einem der Betonpfeiler! Sie kreischte innerlich auf. Ein Schatten! Ihre Gesichtszüge fielen in sich zusammen, als wäre kein Muskel da, der sie hielt. Ihre Augenlider flatterten vor Nervosität. Sie zwinkerte. Das Bild veränderte sich. Der Schatten? Verschwunden. Nur eine optische Täuschung? Gaukelten ihre Sinne ihr etwas vor? Verzweifelt suchte sie visuell nach Hinweisen. Keine. Keine Menschenseele. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, hielt mit der Frequenz ihres rasanten Pulses stand. Sie redete sich ein, dass es vielleicht doch der schwarze Hauskater war, der auf der Suche nach Mäusen und Ratten in der Tiefgarage herumschlich. Das tat er jedenfalls jede Nacht und so ziemlich um die gleiche Zeit. Ein Ablenkungsmanöver für ihre überspannten Nerven. Sie seufzte tief und die Beklemmung löste sich merklich. Ein so wohltuendes Gefühl, welches sie jedoch nicht lange genießen konnte. Schließlich befand sie sich auf einer lebensgefährlichen Mission. Und auf der Flucht. Jede Sekunde, die sie sinnlos vertrödelte, konnte ihr Ende bedeuten. Ein alles verzehrender Gedanke, der einem Menschen auch noch den letzten Funken Hoffnung rauben konnte. Doch sie blieb tapfer. Das Schlimmste hatte sie schließlich überwunden. Die Flucht aus dem unterirdischen Gebäudekomplex. Niemand war auf den Gedanken gekommen, sie aufzuhalten. Offensichtlich hatte keiner der Angestellten etwas bemerkt. Ein großes Glück. Jetzt nur noch schnell die Tiefgarage verlassen. Das sollte kein Problem darstellen.

      Ein neuer Gedanke überschwemmte eiskalt ihr Bewusstsein und schoss gleich einem Hochgeschwindigkeitszug durch ihren Kopf. Sie musste unbedingt den Flug noch erreichen! Ihr Gepäck, gültiger Reisepass und das Flugticket lagerten bereits in einem der Schließfächer des hiesigen Flughafens. Sie warf einen Blick auf die Uhr im ledernen Armaturenbrett. Ihre Augen glühten dramatisch auf. 23 Uhr und 27 Minuten. Viel zu knapp! Sie musste es einfach schaffen! Sie musste! Denn es gab für sie kein Zurück mehr! Ihre Nerven wollten sich nun kaum mehr beruhigen. Sie fühlte sich wie unter Hochspannung.

      Doch das war noch längst nicht alles. Das i-Tüpfelchen, welches die Mission endgültig zum Scheitern verdammte, bekämpfte ihr Bewusstsein. Ausgerechnet jetzt und zu ihrem vollsten Unverständnis zeigten sich hartnäckig Symptome einer fortgeschrittenen Unterzuckerung. Kalter Schweiß brach schlagartig aus sämtlichen Poren. Ihre Kleidung sog sich sofort damit voll und klebte wie ein feuchter Film auf ihrer Haut. Brennender Durst schien ihren Rachen in Flammen aufgehen zu lassen und das Schwindelgefühl gaukelte ihren Sinnen Phantasiebilder vor. Hektisch griff sie nach einer Schachtel Traubenzucker-Tabs, die, wie gewohnt, in einer kleinen Mulde der Mittelkonsole lagen. Gierig schob sie sich eine kleine Handvoll davon in den Mund. Eilig zerkaute sie den Treibstoff für ihr Blut und spülte mit einem kräftigen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche nach, die in einer Halterung am Armaturenbrett klemmte. Sie hatte keine Zeit darauf zu warten, dass sie wieder fahrtauglich wurde. Wie eine Betrunkene steuerte sie den Wagen durch die Tiefgarage. Nur nicht gegen einen der Betonpfeiler fahren. Sie konnte nicht glauben, dass das passierte! Es war praktisch unmöglich und wissenschaftlich nicht erklärbar! Das Abendessen wie auch das Spätstück gaben ihr mehr als ausreichend Kohlenhydrate. Kurz- und Langzeitinsulin spritzte sie nach Schema. Möglicherweise lag es am Stress? Obwohl in den meisten Fällen der Blutzuckerwert bei Stress in die Höhe schnellte. Und sie hatte gewaltigen Stress! Sie glaubte beinah, ihr Körper bestehe nur noch aus Cortisol. Was für ein Irrsinn! Doch