Jeannette Kneis

SERUM


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nur unlogisch und für sie als Wissenschaftlerin nicht nachvollziehbar. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Komplikationen während ihrer Flucht. Und dabei hatte sie monatelang alles minutiös geplant und organisiert.

      Alles wird gut, Madeleine! Alles wird gut! Gleich geht es dir besser. Ihre innere Stimme, die sie eigentlich beruhigen sollte, klang hysterisch.

      Ein Hindernis erschien vor der flachen Motorhaube ihres Sportwagens. Beinah zu spät trat sie auf das Bremspedal. Ihr Körper wurde unsanft nach vorn geschleudert und blieb im Gurt hängen. Nach einer kurzen Orientierung senkte sie per Knopfdruck das Seitenfenster. Zitternd schob sie die Code-Karte, die sie kaum zwischen ihren Fingern spürte, in den schmalen Schlitz der gelben Bediensäule der Schrankenanlage. Extreme Anspannung. Ihre gesamte Muskulatur bestand aus übermäßig gestrafftem Drahtseil. Ihre Augen saugten sich an dem Schlitz fest. Sekundenlang geschah gar nichts. Madeleine hielt unwillkürlich die Luft an. Funktionierte die Karte noch? Sie würde die Aluminiumschranke auf jeden Fall durchbrechen müssen, falls ...

      Es surrte mehrmals und das Gerät spuckte die Karte zügig wieder heraus. Hastig nahm die Frau diese an sich und warf sie achtlos in ein Ablagefach. Sie würde dieses Teil in ihrem ganzen Leben nicht mehr brauchen. Die schwarz-gelbe Schranke der Tiefgarage hob sich schwungvoll und ließ den rubinroten Porsche 911 Carrera 4S ohne Problem passieren, während Madeleine die Seitenscheibe der Fahrertür wieder nach oben surren ließ, denn draußen herrschte bittere Kälte unterhalb des Gefrierpunktes. Und Kälte konnte sie noch nie gut leiden. Sie sehnte sich nach einem behaglichen, sorgenfreien Urlaub auf den traumhaften Malediven: Schnorcheln in der bildgewaltigen Unterwasserwelt, barfüßige Spaziergänge am Strand und die Genüsse eines luxuriösen Spa. Nach einem kurzen Abstecher in ihre Wunschwelt kehrten ihre Sinne schmerzhaft zurück in die kalte Realität mit all ihren viel zu anhänglichen Problemen, die sich schier unendlich hoch in ihrem Kopf türmten und sie in den Wahnsinn zu stürzen drohten. Hatten die tatsächlich nichts bemerkt? Oder hatten die sie absichtlich laufen lassen? War es tatsächlich ein Kinderspiel, die Initiatoren der Sache und deren Helfershelfer zu hintergehen und ihnen das zu entreißen, was eigentlich niemals für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollte? Sie wischte die aufdringlichen und obendrein unnötigen Fragen energisch aus ihrem Kopf und merkte, dass sie schnell ruhiger wurde. Sie war denen entkommen. Und nur das zählte. Sie wiederholte diesen Gedanken mehrmals leise vor sich hin murmelnd und motivierte sich damit gleichzeitig, positiver in die Zukunft, ihre Zukunft, zu blicken. Ich habe es geschafft! Ihre Körperfunktionen, die noch vor ein paar Minuten einem bunten Feuerwerksspektakel glichen, normalisierten sich erheblich. Und auch der Blutzuckerspiegel kehrte gefühlsmäßig auf ein normales Niveau zurück.

      Der nächtliche Verkehr von frostigen Minusgraden beherrschten New York nahm sie auf, in dem sie sich einigermaßen sicher fühlte, als eine unter vielen, und schwemmte sie, trotz der schnee- und eisfreien Straßen, viel zu langsam ihrem Ziel entgegen. Hinzu kamen Kehrmaschinen und Streufahrzeuge des Department of Sanitation, der Stadtreinigung, die in einer Seelenruhe ihren Job verrichteten. Noch immer nervös, weil unter enormen Zeitdruck, saß die Frau auf ihrem schwarzen, beheizten Ledersitz und trommelte immer wieder mit den Fingern ungeduldig gegen das Lederlenkrad. Unzählige Male starrte sie auf die Uhr, als verginge so die Zeit langsamer.

      0 Uhr und 17 Minuten. Die Zeit wurde immer knapper. Sie leerte die kleine Flasche Wasser, um das trockene, brennende Gefühl in ihrem Rachen gänzlich zu vertreiben, während sie immer wieder rote Ampeln unfreiwillig zum Anhalten zwangen. Sie seufzte tief auf. Unfassbar. Der Stresslevel in ihr stieg explosionsartig an. Die Zeit sitzt mir im Nacken und jede verdammte Ampel quält mich mit ihrem Rotlicht! Das darf doch nicht wahr sein! Linker Hand näherte sich eine Streife der NYPD. Gemächlich kam das Fahrzeug neben ihr an der fetten Haltelinie zum Stehen. Madeleine Kurz nahm nervös die Gegenwart der Polizei aus dem Augenwinkel wahr, zügelte sich jedoch, einen direkten Blick nach links zu werfen. Während sich dessen Fahrer auf den Verkehr konzentrierte, begutachtete sein Kollege auf dem Beifahrerplatz die offensichtlich überstrapazierte Porschefahrerin mit versteinerter Miene. Madeleine spürte förmlich, wie sich seine Augen in ihren Kopf bohrten. Grün. Doktor Kurz wäre am liebsten mit durchgetretenem Gaspedal davongerauscht, als das Signal der Ampel die Fahrt freigab, doch sie beherrschte sich und fuhr langsam an. So konnte sie sehen, dass die Polizeistreife links abbog, um ihre nächtliche Patrouille fortzusetzen, und sie in Frieden ließ. Die ungewollte Anspannung fiel spürbar von ihr ab und sie konzentrierte sich wieder besser auf den Verkehr. Doch mit der Ruhe war es nach wenigen Straßenzügen schnell wieder vorbei. Beim routinemäßigen Blick in den Rückspiegel erregte ein monströses Quad mit viel zu hoch eingestellten Scheinwerfern ihre Aufmerksamkeit. Wer, zum Kuckuck, fuhr um diese Jahreszeit und diesen Temperaturen mit so einem Gefährt? Eine stämmige, schwarze Gestalt saß angriffslustig darauf. Seine aufdringliche Fahrweise ließ das gestresste Herz der Frau beinah stillstehen. Von erneuter Panik erfüllt, rechnete sie jede Sekunde mit einem Anschlag auf ihr Leben. Was sollte sie jetzt, um Himmels Willen, tun? Einfach am Straßenrand anhalten und beobachten, was der Quadfahrer tat? Sie rechnete sich das Schlimmste aller Szenarien aus. Flüchten, bis der Quadfahrer sie nicht mehr einholen konnte? Die Polizei würde sofort auf sie aufmerksam werden und sie wie eine Verbrecherin gnadenlos jagen. Eine Nacht in der Gefängniszelle konnte sie sich auf gar keinen Fall leisten. Und nun? Ihre Reaktionszeit betrug weniger als eine Sekunde. Sie gab mehr Gas und merkte, dass ihr Verfolger unverzüglich aufholte. Wechselte sie die Spur, blieb er wie ein Schatten an ihr kleben. Ihr Atem ging schneller. In ihren Augen loderte Angst und Wahnsinn mit brennend heißer Lust. Ein spürbarer Schweißfilm bildete sich auf ihrer Haut, der sie unvermittelt frösteln ließ. War es jetzt soweit? Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe, dass es schmerzte. Würde sie nun für ihren Verrat bezahlen? Für den Mut zur Wahrheit? Sie sah einfach nur noch das Böse in dieser Welt. Welcher von Grahams Leuten steckte wohl in der Kluft des Quadfahrers, um ihr Lebenslicht auszublasen? Madeleine drückte das Gaspedal unbewusst weiter nach unten. Der Porsche beschleunigte mit unverfrorener Leichtigkeit. Sie spürte, wie sich die Angst wieder durch ihre Eingeweide fraß und ihren Geist lahm zu legen drohte. Krampfhaft klammerten sich ihre Finger um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie wagte es kaum zu atmen. Ihre Panik lodernden Augen hafteten über die Rückspiegel wie magnetisiert an dem Verfolger. Ich bin verloren. Plötzlich schwenkte der Fahrer nach links, positionierte sich direkt neben die Fahrertür und hielt der Geschwindigkeit des Porsche stand. Das dunkle Visier wand sich immer wieder der Fahrerin zu. Madeleine saß wie gelähmt in ihrem Ledersitz, unfähig zu reagieren. Dann, als beide Fahrzeuge auf eine weitere Ampel zufuhren, richtete die dunkle Gestalt auf dem Quad ihre rechte Hand auf die Insassin des Sportwagens und ...

      Madeleine tat das einzig richtige, auch wenn sie damit einen Auffahrunfall provozierte. Sie presste ihren Körper in den Sitz und versteifte sich. Dann legte sie eine Vollbremsung hin. Sofort ging die Warnblinkanlage an, um den nachfolgenden Verkehr zu alarmieren. Dieser reagierte mit einem Hupkonzert, wich jedoch dem stehenden Hindernis aus, welches auf der mittleren Spur stand. Madeleine ignorierte ihre verärgerten Mitmenschen und starrte dem Quadfahrer entgeistert hinterher, der an einer der nächsten Kreuzungen links abbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ihr Puls raste immer noch. War sie tatsächlich einem Attentat entgangen? Wie in Trance lenkte sie den Wagen an den Fahrbahnrand und stellte den Motor ab. Er hat einen Mörder auf mich angesetzt. Er weiß es! Er weiß alles! Zitternd und kurzatmig, aber auch völlig entkräftet hing sie in ihrem Sitz. Das kann nicht wahr sein! Das Bild des mörderischen Quadfahrers in der schwarzen Lederkluft drängte sich ihr wieder auf und sie glaubte gesehen zu haben, dass er ihr den Mittelfinger erhoben entgegenstreckte. Verwirrt fragte sie sich, ob ihre Sinne sie betrogen, denn für einen entsetzlich langen Moment dachte sie vorhin tatsächlich, es sei aus und vorbei, der aufdringliche Quadfahrer würde eine Schusswaffe aus seiner wuchtigen Lederjacke hervorziehen, diese zielsicher auf sie richten und ... . Ihre Sinne spielten verrückt. Kein Wunder nach all den Wochen und Monaten höchster Konzentration und Anspannung. Ein Klopfen an der Scheibe der Fahrertür riss sie aus ihren Gedanken. Polizei. Unverzüglich senkte Madeleine Kurz das Seitenfenster.

      Eine stämmige, afroamerikansche Polizistin beugte sich zu ihr hinab und meinte mit rauchiger Stimme: "Мa'am, Sie stehen hier im absoluten Halteverbot!" Sie wies auf das schon reichlich mitgenommene, rote Verkehrsschild mit der leicht verbogenen, weißen Schrift NO STOPPING ANYTIME hin. Selbst im Schein der bescheidenen,