Jeannette Kneis

SERUM


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sie die Spültaste an dem exquisiten Porzellantoilettenbecken als Zeichen, dass sie ihr Geschäft beendet hatte und entriegelte die Tür.

      Ein genervtes, mürrisches Frauengesicht blickte ihr entgegen. Man sah ihr an, dass ihr das Wasser bis zum Hals stand und ihre Blase kurz vor der Explosion.

      "Na endlich! Das wurde ja auch mal Zeit!" stöhnte ein anderer Passagier im Hintergrund.

      "Genau. Die Reichen meinen auch, sich alles erlauben zu können", knurrte ein anderer mit erhobener Faust. "Wir sind ja nur zweitklassig. Wir können warten."

      "Harry, wirst du wohl still sein!" wies ihn eine Frau giftig zurecht. "Sonst fliegen wir noch raus."

      "Herta", stöhnte ihr Mann, "wir sind hier in einem Flugzeug. Aber davon verstehst du ja nichts."

      "Entschuldigung! Mir geht es nicht besonders gut."

      Die andere Frau, die an erster Stelle der Schlange stand, erwiderte nichts. Stattdessen verschwand sie eilig in der Toilette.

      Die Tasche fest unter den Arm geklemmt, wanderte Madeleine Kurz zurück zu ihrem Sitz in der First-class, auf dem sie sich angespannt nieder ließ. Ihr Dessert und das noble, rote Getränk standen noch an ihrem Platz. Der verschüttete Rotwein war entfernt worden.

      "Geht es ihnen noch nicht besser, Mrs. Kurz? Sie sehen angespannt und sehr blass aus", sprach sie Bernhardt Jackson mit leisem, besorgten Ton an.

      "Es es geht schon wieder", entgegnete sie kurz angebunden. Ungewollt fügte sie noch einen Kommentar hinzu, der mehr einer Rechtfertigung glich. "Ich glaube, die letzten Arbeitstage waren ein wenig zu lang und intensiv gewesen."

      "Ich verstehe. Wenn Sie gestatten", Jackson schielte mit Adleraugen auf Mrs. Kurz ihre Businessaktentasche, "lege ich Ihre Tasche zurück in das Fach über Ihnen." Er wollte bereits aufstehen, um ihr diesen kleinen Gefallen zu erweisen, als er von ihrer Antwort zurück in seinen Liegesitz katapultiert wurde. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch.

      "Nein!" erwiderte Madeleine gereizt. Erschrocken besann sie sich. "Ich ich werde sie lieber bei mir behalten." Sie ärgerte sich im Nachhinein, dass sie kurz überreagierte. Mister Jackson sollte nicht glauben, dass sie etwas verbarg. Sie legte die Tasche auf der breiten, holzgemaserten Konsole ab. "Das Equipment, dass ich als Diabetikerin benötige, bleibt besser in greifbarer Nähe", meinte sie etwas ruhiger. "Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich benötige etwas Ruhe." Madeleines Selbstsicherheit war machtvoll zurückgekehrt. Sie war nun wieder sie selbst.

      "Selbstverständlich", erwiderte ihr Nachbar verständnisvoll lächelnd und vertiefte sich sogleich in seine Zeitung. Eine Flugbegleiterin brachte ihm einen Weißwein, woraufhin er sich ebenso lächelnd bedankte.

      Mit dem Glas des attraktiv schmeckenden Rotweins in der Hand, starrte Frau Doktor Kurz zu den beiden Flugzeugfenstern hinaus, obwohl ihr dort hauptsächlich Dunkelheit begegnete. Ihr Blick kehrte sich jedoch schnell nach innen. Sie wünschte sich sehnlichst eine angemessene Auszeit, denn die hatte sie sich redlich verdient nach den gefahrvollen Strapazen der letzten Monate. Doch zu ihrem Unwillen zog sich der Flug noch einige Stunden hin. Außerdem gab es für sie in Deutschland noch jede Menge zu organisieren in Bezug auf die Veröffentlichung der von ihr entwendeten, explosiven Daten. Erst dann konnte sie gänzlich untertauchen und entspannen. Von den Vereinigten Staaten aus war es ihr nicht möglich gewesen Kontakt zu Behörden und Presse in ihrer Heimat aufzunehmen. Die Gefahr enttarnt zu werden war extrem hoch. Auch den Kontakt zu ihrem Verlobten musste sie in den letzten Tagen bedauerlicherweise unterlassen. Sie durfte sich nur auf sich selbst verlassen. Falls doch etwas schiefgehen sollte, hatte sie noch ein gewaltiges Ass im Ärmel. Sie hoffte allerdings, dass es nicht zum Einsatz von Plan B kam, denn das bedeutete auch, das sie tot war. Madeleine schüttelte sich. Nein, an so etwas durfte sie gar nicht erst denken. Bis dato lief alles nach ihrem Plan. Sie stellte ihr leeres Rotweinglas ab und wand sich dem Orangensorbet zu, welches sie sich Löffel für Löffel auf der Zunge zergehen ließ. Anschließend gönnte sie sich erschöpft und zufrieden, sowie mit der Tasche an ihrer Seite, einige Stunden Schlaf.

      *****

      "Miss Kurz! Bitte wachen Sie auf!"

      Frau Doktor Kurz war sofort hellwach. "Was ist passiert?" Ihr Herz hämmerte vor Schreck und Angst, beruhigte sich jedoch schnell, als die Wissenschaftlerin in das freundliche Gesicht einer der Reisebegleiterinnen blickte.

      "Wir landen in einer halben Stunde auf dem Flughafen London Heathrow, Ma'am. Ich muss Sie bitten, Ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen und sich anzuschnallen. Wenn Sie es wünschen, bin ich Ihnen gern dabei behilflich."

      "Ja. Ja, natürlich."

      "Ich nehme Ihnen die Decke und das Kopfkissen ab, Miss Kurz."

      "Gut. Danke!" Sie riskierte einen unauffälligen Blick zur Seite. Ihr Nachbar schien sich nicht mehr für sie zu interessieren. Nach wie vor beschäftigte er sich mit unterschiedlichen Gazetten. Darin schien er sehr ausdauernd zu sein. Das konnte Madeleine nur recht sein. Sie schaute auf die Zeitangabe auf dem Monitor - 17.46 Uhr inklusive der Zeitumstellung. Gewissenhaft stellte sie ihre eigenen analoge Armbanduhr danach. Ihr Blick ging nach draußen. Außerhalb der kleinen, ovalen Flugzeugfenster bedeckte immer noch Dunkelheit den Ozean und das europäische Festland. Die britische Hauptstadt darin erschien ihr wie ein großer, leuchtender Stern, der seine vielen unterschiedlichen Zacken in sämtliche Himmelsrichtungen ausstreckte. Ein Glücksgefühl überrollte sie plötzlich und sehr heftig. Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Deutschland. Ihre Heimat. In ihrem Geiste durchwanderte sie geliebte Plätze und Landschaften. Mein Zuhause. Wie lange war es her, seitdem sie ihre heimische Wohlfühloase, wie sie es für sich nannte, verließ? Viel zu lange, Madeleine, viel zu lange, beantwortete sie ihre Frage. Sie konnte die heimische Atmosphäre förmlich auf der Haut spüren und ihre vertrauten Düfte schmecken, wenn sie die Augen schloss. Ihre Haut kribbelte vor Erregung. Nein, tat sie nicht. Ihr Dekollete juckte. Sie seufzte genervt und ignorierte das Symptom, da es ihrer Ansicht nach eindeutig psychosomatischen Ursprungs war. Stattdessen maß sie ihren Blutzuckerwert. Dieser lag zwar im etwas erhöhten Bereich, doch das war ihr im Moment lieber, als eine erneute Hypoglykämie. "Мiss!" rief sie eine Flugbegleiterin an, die gerade in ihrer Nähe stand. "Вringen Sie mir bitte noch ein großes Glas Stilles Wasser!"

      „Selbstverständlich!“

      Madeleine genoss das kühle Nass, welches sie recht zügig trank, und legte dann den Sicherheitsgurt an.

      Bernhardt Jackson legte seine Zeitung beiseite, die Ausgabe eines deutschen Tagesblattes. "Gott sei Dank haben wir in ein paar Minuten wieder festen Boden unter den Füßen. Obwohl ich von Berufswegen dazu verdammt bin, in der Welt umher zu jetten", gestand er und gestattete sich einen wehmütigen Seufzer. "Wie steht es mit Ihnen, Mrs. Kurz?" Ihr Name schmolz ihm förmlich über die Lippen, die Augen waren ein einziger Magnet, mit dem Ziel alles Weibliche zu hypnotisieren.

      Die Angesprochene widerstand problemlos, denn sie war keineswegs erpicht darauf, mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen. Jackson sollte sie einfach nur in Ruhe lassen. Sie hatte schon genug durchgemacht. Da musste nicht auch noch ein unverschämt attraktiver Mann in ihr Leben treten und sie um den kleinen Finger wickeln wollen. Sie wollte jedoch nicht unhöflich sein. Während sie ihn absichtlich nicht anblickte und dabei ihre Kleidung und das Haar geschäftig zurecht zupfte, erwiderte sie: "Mir macht die Fliegerei nichts aus. Ich neige dazu, die Stunden an Bord der Entspannung zu widmen und diese auch zu genießen."

      "Dafür muss ich Sie aufrichtig bewundern."

      "Was soll daran bewundernswert sein?"

      "Sie nehmen die Fliegerei hin, als würden Sie mit dem Bus zum Meeting fahren."

      Madeleine widerstand erneut der Versuchung ihm direkt in die hypnotisierenden Augen zu schauen. Doch sein verlockender Ruf. Autsch. Er war wie eine männliche Sirene, dachte sie bei sich. Doch bei ihr hatte er keine Chance mehr, denn in seinem alles einnehmenden Charme lag auch etwas Unheimliches. Stattdessen öffnete sie den Mund und wollte höflich erwidern, als ihre Aufmerksamkeit und die der anderen Passagiere auf eine Ansage gerichtet wurde.

      "Sehr geehrte Damen und Herren!" wurden die Gesprächspartner