Jeannette Kneis

SERUM


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Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug und würden uns freuen, Sie bald wieder als Fluggast an Bord von American Airlines begrüßen zu dürfen. Auf Wiedersehen und eine angenehme Heim- oder Weiterreise wünscht Ihnen ihr Flugkapitän Thomas Morgan im Namen aller Crewmitglieder."

      Noch ein paar ereignislose Minuten verstrichen, dann begann der Sinkflug. Kurz darauf wurden die Fahrwerke vernehmbar ausgefahren.

      Das begonnene Gespräch zwischen Kurz und Jackson war nicht mehr von Belang.

      "Ich hasse es!" knurrte Jackson sichtlich nervös, während Madeleine ganz entspannt auf ihrem Platz saß und die Landung auf dem Monitor interessiert und gelassen verfolgte, ohne ihrem Nachbarn Aufmerksamkeit oder Gehör zu schenken. Sie ließ ihn sozusagen links liegen.

      Die hell erleuchtete Landebahn mit ihren weißen, fluoreszierenden Markierungen kam in Sichtweite. Im Hintergrund leuchtete ihr ein Meer aus künstlichem Licht entgegen. Nur wenig später nahmen die Räder der Boeing Kontakt mit dem Boden auf. Rumpelnd und mit abnehmender Geschwindigkeit rollte die Maschine über den scheinbar sehr unebenen Asphalt, während die Passagiere in der Touristenklasse für die gelungene Landung klatschend und pfeifend Beifall jubelten. Die Passagiermaschine kam nach einer längeren, holprigen Fahrt zum Halten, die Flugbegleiterinnen wuselten bereits wieder geschäftig zwischen den Sitzreihen umher und halfen den Komfort und Service gewohnten First-class Fluggästen bei Bekleidung und Handgepäck, während zwei komfortable Fluggastbrücken für die erste und die Touristenklasse an ihren Ausgängen andockten und die Bordtüren geöffnet wurden. Die Passagiere der Touristenklasse drängelten sich in den schmalen Gängen des Flugzeugbauches, bepackt mit Winterjacken und dem Handgepäck.

      Bernhardt Jackson griff nach seinen Sachen in der oberen Ablage. Von einer Stewardess ließ er sich in seinen langen Wintermantel helfen. Mit einer Selbstverständlichkeit blickte er zu seiner Nachbarin rechts von sich. "Vielleicht treffen wir uns eines Tages wieder, Mrs. Kurz", sagte er plötzlich mit einem sanften, freundlichen Lächeln. "Man trifft sich immer zwei Mal im Leben." Spiegelte sich da etwa Bedauern in seinen strahlenden Augen wider? Fühlte er sich etwa von ihr angezogen?

      "Das steht wohl in den Sternen, Mister Jackson", antwortet Doktor Kurz und ließ sich ebenfalls in den Wintermantel helfen.

      „Gewiss, gewiss", stimmte er ihr unumwunden zu, ohne einen weiteren Anflug von Emotion öffentlich zu zeigen. "Ich bin entzückt Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mrs. Kurz. Auch wenn es nur ein kurzes Vergnügen war. Ich wünsche einen angenehme Weiterreise. - Und achten Sie auf ihren Blutzuckerspiegel!" meinte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Damit verschwand Bernhardt Jackson aus Doktor Madeleine Kurz' Leben.

      Madeleine fiel sprichwörtlich ein Stein vom Herzen, als er aus ihrem Sichtfeld verschwand und sie hoffte sehr, ihn in dem weitläufigen Flughafengebäude nicht doch noch einmal über den Weg laufen zu müssen. Auf diese Art von Zufall konnte sie gut und gerne verzichten.

      Die Wissenschaftlerin gehörte zu dem letzten Schwung von Passagieren der ersten Klasse, die das Flugzeug durch das witterungsschützende Gateway verließen. An der Passkontrolle wurde ihr Dokument nach einem eingehenden Studium ohne Einwände an sie zurückgegeben. An der Gepäckausgabe für First-class und Business Reisende bekam sie zügig und persönlich ihren unbeschädigten Koffer überreicht. Danach passierte sie den blauen Zoll-Ausgang für EU-Staatsbürger, ohne einer aufwendigen Kontrolle ihres Gepäcks. Soweit sie dies aus den Nachrichten wusste, war der Brexit noch nicht durch. Laut Aushang ging ihr Flug nach Leipzig erst in dreieinhalb Stunden. Viel Zeit! Zu viel Zeit! Vergeudete Zeit! Aber leider nicht zu ändern. Sie marschierte die Gänge entlang zum Check-in der First und Business-class für ihren Flug der Lufthansa, wo sie innerhalb von ein paar Minuten ihr Gepäck aufgab. Danach passierte sie die Sicherheitszone zur Aufenthaltslounge der Lufthansa für die gut betuchten Passagiere, die sie mit gediegener Musik, komfortablen Sitzgelegenheiten, einem sehr reichhaltigen Buffet und einer beachtlichen Auswahl an Getränken empfing. Verschiedene Zeitschriften und eingeschaltete TV-Monitore boten sich an, die lange Zeit bis zum Aufruf ihrer Maschine sinnvoll zu nutzen. Wenn sie sich dem Schweiß und Schmutz von der langen Reise entledigen wollte, konnte sie sogar die ausgewiesenen Duschen von höchstem Komfort und Ausstattung als kostenfreie Serviceleistung in Anspruch nehmen. Unwillkürlich griff Madeleine an ihr Dekollete. Ihre Fingernägel zogen unerwartet hellrote Streifen über die verletzliche Haut. Der immer wiederkehrende Juckreiz hatte ohne erkennbaren Grund an Intensität zugenommen und verärgerte sie. Die junge Frau seufzte leidgeprüft, nahm sich im Vorübergehen eine Karotte von der appetitlich angerichteten Gemüseplatte und eilte im Laufschritt zur Damentoilette. Sie betrat eine der großzügigen und exklusiven Kabinen. In Gedanken nur noch mit ihrem seltsamen Hautproblem beschäftigt, stellte sie ihre Aktentasche unaufmerksam auf dem breiten, marmornen Waschtisch, neben all den kostenfreien Kosmetika und weißen Handtüchern ab. In unklarer Erwartung entfernte sie die Bekleidung, die ihren Oberkörper bedeckte. Sie erschrak bis ins Mark, dem ein kurzer, unsanfter Stich mitten ins Herz folgte. Die Knie begannen ihr unkontrolliert zu zitterten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die ursprünglich minimalen Hautveränderungen hatten an Intensität zugenommen. Diffuse Fleckenherde überzogen nun die sensible Hautpartie und sonderten eine klare Flüssigkeit an ihre Umgebung ab. Konnte sie diese Symptome noch einer psychischen Überbelastung zuordnen oder lagen sie einer Unverträglichkeit oder allergischen Reaktion zugrunde? Ein Ekzem, durch Stress verursacht? Nach Luft ringend stützte sich Madeleine auf dem Waschtisch ab. Was, um Himmels Willen, geschah hier mit ihr. Sie wollte sich einreden, dass es nichts schlimmes war. Doch ihr Bauchgefühl und ihr Unterbewusstsein sagten eindeutig etwas anderes. Beide signalisierten Gefahr! Aber wovor? Gab es möglicherweise eine Verbindung zu ihren nicht nachvollziehbaren Unterzuckerungen? Überdies gab es immer wieder kleine Momente, in denen sie sich einfach ... seltsam fühlte. Sie konnte es selbst nicht sinnvoller beschreiben. Gab es dahingehend einen logischen Zusammenhang? Madeleine war nicht fähig eine Diagnose zu stellen. Sie brauchte fachärztlichen Rat und wusste bereits an wen sie sich wenden würde, wenn sie denn erst einmal in Leipzig ankam. Nachdem der anfängliche Schock allmählich dem Verstand wich, untersuchte Dr. Kurz die großflächige Wunde nun als Wissenschaftlerin unter dem hellen, kalten Licht der Damentoilette im Spiegel nun eingehender. Sie konnte sich nicht erklären, woher die Rötungen kamen und weshalb sich diese hauptsächlich auf ihren Oberkörper begrenzten. Ihre Brüste wurden bereits in Mitleidenschaft gezogen und deren Haut spannte unnatürlich. Sie resümierte die letzten Tage, an welchen Orten und Plätzen sie war, mit welchen Gegenständen und Personen sie Kontakt hatte. Hatte sie alle Sicherheits- und Hygienemaßnahmen eingehalten? Wurde sie versehentlich über die Haut oder über die Atemwege mit nicht keimfreien Material kontaminiert? Befand sich eine toxische Substanz in ihrem Essen oder in den Getränken? Oder hatte jemand sogar ihr Insulin manipuliert? Sie kam zu keinem Resultat. Nur die grauenhaften Bilder ihres unwürdigen Arbeitsplatzes bohrten sich immer wieder hartnäckig in ihr Bewusstsein. Gab es da tatsächlich eine Verbindung? Oder spann sie sich irgendetwas zusammen? Sie seufzte schwermütig. Auf dieser englischen Damentoilette würde sie umsonst auf eine Lösung hoffen. Das beste wäre, gleich nach ihrer Ankunft in Leipzig die befreundete Ärztin anzurufen, die der Angelegenheit ein Krankheitsbild zuordnete und eine Diagnose gab. Hoffentlich! Die Ungewissheit machte sie regelrecht mürbe. Sie zog sich wieder an und drapierte ihr Dekolette mit einem bunten Tuch aus ihrer Tasche. Anschließend ermittelte sie ihren Blutzuckerwert. 12,5 mmol/l. Das hatte sie erwartet. Sie nahm ihr Spritzenschema zur Hand und injizierte sich die angegebene Menge Kurzzeitinsulin in den rechten Unterbauch und die feststehenden Einheiten Depotinsulin in den rechten Oberschenkel. Anschließend nahm sie ihr Handgepäck an sich und verließ das Damen-WC. In der Lufthansa Lounge steuerte sie auf einen der bequemen Ledersessel zu, nahm Platz und begann zu warten, während sie zwischenzeitlich ihr Frühstück einnahm, einen Espresso genoss, die Zeitschriften durchstöberte oder einfach nur zur Anzeigentafel der Flight Connections hoch starrte. Die anderen Reisenden, die sich in der Lounge aufhielten, interessierte sie weniger, im Grunde überhaupt nicht. Sie wollte und brauchte Ruhe. Gedankenverloren aß sie noch einen kleinen Reissnack und spülte die Reste in ihrem Mund mit einem Schluck Wasser hinunter, um anschließend Leib und Seele etwas Ruhe zu gönnen. Madeleine dämmerte gerade vor sich hin, als der Aufruf zu ihrem Flug klar und deutlich aus den Lautsprechern erklang. Sie war sofort hellwach und katapultierte sich regelrecht von ihrem Sitzplatz. Eilig, die lederne Aktentasche wieder fest unter den