Jeannette Kneis

SERUM


Скачать книгу

hieß. Nach der Bordkartenkontrolle floss der Schwarm der Reisenden durch ein Gateway und an Bord eines Airbus A 321-200 der deutschen Lufthansa. Der junge, charmante Flugbegleiter wies Frau Doktor Kurz beinah ehrerbietig lächelnd in die hochwertig ausgestattete Business-class. Auf Kurzflügen wurde ausnahmslos auf die erste Klasse verzichtet. In jeder Reihe befanden sich links und rechts des Ganges je zwei komfortable, sesselartige Sitze. Die Beinfreiheit zum Vordersitz war auch für sehr große Passagiere mehr als genug. Eine extra breite Armlehne sorgte für genügend Abstand zum Sitznachbarn, und den brauchte Madeleine auch. Der zuvorkommende Flugbegleiter half ihr aus dem Mantel und verstaute diesen sorgfältig in der oberen Ablage. Kurz bedankte sich. Ehe sie mit ihrer Tasche und dem wertvollen, unersetzlichen Inhalt Platz nahm, begrüßte sie ihre Sitznachbarin am Fensterplatz, die mit einem sehr abschätzenden Blick auf Madeleine und einem verkniffenen "Hello!" antwortete. Damit war alles gesagt. Die vielleicht zehn Jahre ältere Geschäftsfrau in ihrem geradezu lächerlich aussehenden, rosa karierten Hosenanzug und der überdimensionalen Kette aus ungeschliffenen blauen und grünen Edelsteinen hegte keinerlei Interesse an einer Kommunikation mit ihr. Madeleine konnte dies nur recht sein. Auch sie wollte möglichst in Ruhe gelassen werden. Sie war viel zu müde für anspruchsvolle Gespräche, bei dem sie jedes Wort auf die Waagschale legen musste. Mit der Tasche an ihrer Seite machte es sich Doktor Kurz in dem komfortablen Sessel bequem und schlief wenige Minuten später ein, noch bevor sich der Airbus auf den Weg zum Rollfeld machte. Zu ihrer Überraschung wachte sie erst wieder durch das Rütteln der Lufthansa-Maschine auf, die soeben auf dem großen, mitteldeutschen Flughafen Halle-Leipzig gelandet war. Verschlafen schaute sie auf die Uhr. Sie zeigte 0.33 Uhr MEZ an. Madeleine bemühte sich schnell wacher zu werden, um ihre Umwelt wieder bewusster und klarer wahrzunehmen. Sie bewegte die steifen Arme und Beine, um Blutfluss und Stoffwechsel wieder anzukurbeln. Trotz dem wohltuenden Gefühl, endlich in Sicherheit zu sein, wollte sie nicht nachlässig werden. Grahams Beziehungen reichten um den ganzen Globus. Sie wäre wahrlich leichtsinnig, zu denken, dass ihr Feind sie einfach so in Ruhe ließe. Nein. Nicht Graham. Aber bis er und seine Schurken herausfanden, wo sie wohnte, wäre sie längst wieder über alle Berge. Ihr ehemaliger, abgrundtief verachtenswerter Auftraggeber glaubte alles unter seiner Kontrolle zu haben, doch Doktor Madeleine Kurz war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie horchte in sich hinein. Ihr Körper meldete keinerlei Symptome einer Unterzuckerung. Während sie sich wieder aufrichtete und ihre leicht verschobene Bekleidung ordnete, konnte sie ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Endlich, endlich war sie wieder zu Hause. Sie stellte sich bereits vor, wie sie daheim unter der Dusche mit warmen, prickelndem Wasser stand und ihren Körper mit einem der ausgezeichneten und verführerisch duftenden Duschpeelings von Yves Rocher verwöhnte. Sie spürte die Tasche mit dem wertvollen Inhalt sicher neben sich und ein inneres, triumphierendes Lächeln flutete berauschend ihren Körper. Jetzt ging es ihm und seiner Firma an den Kragen. Die US-amerikanischen Behörden würden ihn und seine dubiose Firma auseinander nehmen, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Kopfkino. Sie sah ihn vor sich, wie er auf das heftigste protestierend, mit hochrotem Kopf und mit Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Im Hintergrund seine völlig konsternierten Anwälte. Eine äußerst befriedigende Vorstellung.

      Heimischer Alptraum

      Nach einer leicht holperigen Fahrt auf dem viel genutzten Asphalt des Flughafens, parkte der Pilot einwandfrei am Hauptgebäude ein. Die schubstarken Turbinen verstummten und ein geschäftiges Treiben begann im Inneren. Neben der Lufthansa-Maschine standen bereits Flugzeuge anderer Linien. Das Drehkreuz Halle-Leipzig war ausnahmslos begehrt für jegliche Art von Luftfracht. Ein strategisch sehr günstiger Punkt. Die DHL führte hier einen gewaltigen Umschlagplatz, und auch die Bundeswehr nutzte den Airport gerne für ihre Zwecke. Abgesehen von den Millionen jährlicher Passagiere, die von hier aus ihren Urlaubszielen entgegen flogen. Das Gateway wurde präzisionsgenau herangefahren und die Luke von dem einzig männlichen Flugbegleiter geöffnet. Danach strömte Dr. Kurz wie auf einer Welle mit den anderen erschöpften und übernächtigten Passagieren hinaus. Über mehrere gläserne Gänge, in recht zügigem Marschschritt und ohne viele Worte zu verlieren, erreichte die Gruppe die Ankunftshalle mit den Gepäckausgaben. Beamte der Flughafenpolizei und des Zolls standen bereit. Die wenigen Gepäckbänder surrten. Im Hintergrund polterte es besorgniserregend. Die übermüdeten Fluggäste scharten sich eilig um die schwarzen Fließbänder mit den sich überlappenden Lamellen. Jeder wollte selbstverständlich zuerst seinen Koffer an sich reißen. Doch es dauerte. Und nicht nur Madeleine wurde unruhig. Sie wollte nach Hause. Sie sehnte sich nach der Sicherheit und Geborgenheit ihrer vier Wände. So schnell es nur ging. Nach einer träge vorbeiziehenden viertel Stunde gesellten sich weitere Fluggäste hinzu. Plötzlich blieben die Gepäckbänder stehen. Ein Murren ging durch die Menge. Dann erschienen auf den Anzeigetafeln über den Ausgaben die jeweiligen Herkunftsflughäfen und die Bänder setzten sich abermals in Gang. Ein Drängeln begann. Jeder wollte der Erste sein. Madeleine Kurz stand glücklicherweise richtig und brauchte nur noch zuzugreifen, wenn ihr Koffer auf sie zukam. Doch sie musste ihre ganze Körperkraft aufwenden, um nicht in die zweite Reihe gedrängt zu werden. Menschen konnten echt rücksichtslos sein. Nach einer weiteren viertel Stunde erschien ihr Koffer. Mit etwas Mühe bugsierte sie diesen vom Fließband. Kein Mensch half ihr dabei, aber sie schaffte es. Ohne Probleme passierte sie anschließend den Zoll. So schnell, wie ihre schweren Beine sie trugen, durchschritt sie die weitreichende, moderne Empfangshalle, in der etliche, müde aussehende Besucher ungeduldig, immer wieder die Ankunft-Anzeigetafeln studierend, auf ihre reisenden Angehörigen und Freunde warteten. Freudig strebte die junge Frau dem Ausgang entgegen. Eine der gläsernen Drehtüren nahm sie auf und bugsierte sie kleinschrittig nach draußen. Mit einer unbeschreiblichen Genugtuung setzte Doktor Madeleine Kurz ihren Fuß auf Leipziger Boden. Erleichtert, mit geschlossenen Augen, inhalierte sie die, zwar eiskalte, aber erfrischende Leipziger Luft wie eine Droge. Es roch nach Heimat. Wie lange hatte sie sich danach gesehnt. Es war wie ein Traum. Ein Traum, der in Erfüllung ging, denn vor zu nicht all zu langer Zeit hatte sie kaum noch gewagt zu hoffen, dass sie es bis hier her schaffte. Die Messestadt Leipzig lag unter einer hauchzarten Schneedecke. Einzelne Flöckchen tanzten im langsamen Walzer herab. Fasziniert schaute sie den von Mutter Natur unterschiedlich geformten Eiskristallen zu, die lautlos und majestätisch vom hell erleuchteten Himmel auf ihren Mantel herabschwebten. Verträumt genoss sie den beruhigenden Anblick und vergaß überdies gänzlich ihre Umwelt. Sie merkte nicht einmal, dass ihre Finger kalt zu werden begannen. Ihr Glücksmoment wurde jäh unterbrochen, als hätte sie es nicht anders verdient. Eine widerwärtige Übelkeit stieg auf und drängte sich hartnäckig in ihr Bewusstsein. Auf Höhe ihres Zwerchfells breitete sich ein schmerzhaftes Kribbeln aus. Madeleine krümmte sich. Was geschah mit ihr? Welchen Grund gab es für diese verwirrenden, gesundheitlichen Probleme? Auf jeden Fall war das keine Hypoglykämie. Sie versuchte sich zu beherrschen, was ihr sehr schwer gelang. Der Schmerz zeigte sich von seiner fiesesten Seite. Es musste komisch aussehen, wie sie nach vorn gebeugt an der hohen Bordsteinkante stand, mit weit aufgerissenen Augen und eine Hand auf den Oberbauch gepresst, während sie sich mit der anderen auf ihrem Gepäck abstützte. Immer wieder hielt sie für einige Sekunden die Luft an, um den Schmerz dadurch erträglicher zu machen. Wollte sie irgendjemand oder irgendetwas von innen erstechen? So fühlte es sich an. Madeleine war den Tränen nahe. Mit einer erneuten Schmerzattacke brachen sie aus ihr heraus und ergossen sich auf den Schnee, der an diesen Stellen sofort von den warmen Tränen kreisrund schmolzen. Warum half ihr niemand? Musste sie denn erst um Hilfe schreien? War der Flughafen denn plötzlich menschenleer geworden? Madeleine spürte Angst in sich keimen und konnte es nicht verhindern.

      "Hallo, junge Frau! Brauchen Sie ein Taxi?" schmetterte ihr unverhofft ein Tenor entgegen.

      Die Angesprochene, mit den Symptomen ihrer unerklärlichen Erkrankung beschäftigt, bemerkte die Anwesenheit des Taxifahrers in den ersten Sekunden nicht. Erst als er mit seinem umfangreichen, von einem in Grau und Grün gestrickten Pullover bedeckten Bauch direkt neben ihr stand, blickte sie mühevoll auf. Eine Kappe im englischen Stil wärmte seinen offenbar kahlen Kopf. Kalter Zigarettenrauch und der Geruch von Pfefferminzbonbon umgab ihn. Über dem altmodischen Pullover trug er eine abgewetzte, braune Lederjacke. Kein anderer schien sich offensichtlich für ihre sonderbare Körperhaltung zu interessieren.

      "Sie sehen nicht besonders gesund aus. Der Flug ist Ihnen wohl nicht bekommen.