Jeannette Kneis

SERUM


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      Wenn das ihre Eltern wüssten. Sie würden sich im Grab, wo immer es sich auch befand, herumdrehen.

      Und plötzlich wusste sie nur zu genau, wem sie diese Abartigkeit zu verdanken hatte. Dieser eine verwunschene Gedanke drängte sich mit einer Macht auf, der sie nichts entgegenbringen konnte. "Graham!" zischte sie voll leidenschaftlicher Wut. Er kam als einziger in Frage. Nur er! Damals, vor etwa drei Jahren, als sie das überaus großzügige Angebot für einen Arbeitsplatz in der Forschung in den Vereinigten Staaten bekam, war sie unglaublich stolz und überglücklich, für einen bedeutenden Konzern wie Messerschmidt-Hancock Enterprises zukünftig arbeiten zu dürfen, die nicht scheuten Gelder auszugeben, um ihre Mitarbeiter mit den neuesten medizinischen Geräten auszurüsten, um in der Forschung erfolgreich zu sein. Ihre Eltern, wenn sie noch gelebt hätten, wären unglaublich stolz auf ihre Tochter gewesen. Doch bereits an ihrem ersten Arbeitstag wurde sie dermaßen tief enttäuscht. Radikal getäuscht. Ihr amerikanischer Arbeitgeber drohte ihr ohne Umschweife, sie zu töten, wenn sie mit anderen, nicht an dem Projekt beteiligten Leuten, über das sprach, an was sie und ihre aus aller Welt eingesammelten Kollegen arbeiteten. Zuerst glaubte sie, der CEO scherzte. Bei der eingehenden Einweisung in ihren neuen Arbeitsplatz und ihrem zukünftigen Aufgabengebiet wurde ihr Irrtum schnell zunichte gemacht. Der Schock, den sie dabei erlitt, ging tief und fraß sich gleich einem widerlichen Schmarotzer durch Eingeweide und Gemüt. Doktor Madeleine Kurz war unfreiwillig Mitwirkende an einem Projekt, dass sich mit illegalen und höchst grausamen Experimenten an Menschen jeder Altersgruppe und beider Geschlechter beschäftigte. Für einen lebenden Ausstieg aus dem verhängnisvollen Arbeitsvertrag war es zu spät. Also fügte sie sich vorerst in ihr hartes Schicksal. Sie fühlte sich bei der Arbeit wie eine Marionette an Fäden. Wie ferngesteuert. Bis zu dem Tag, an dem sie sich beherzt schwor, die unmenschlichen Machenschaften ihres skrupellosen Chefs und seiner gehorsamen Anhänger an die Öffentlichkeit zu bringen. Etliche Monate waren seit ihrem Schwur vergangen. Lieber Herrgott, was ist nur aus mir geworden? Ich war eine taffe, selbstbewusste Frau und obendrein erfolgreiche Wissenschaftlerin. Und jetzt? Sieh dich doch nur an! Dem Tod geweiht. Das hätte ich mir niemals träumen lassen. Das Leben, mein Leben schien so perfekt. So ausgefüllt. - Jack!! Ich will nicht sterben! Madeleine schloss die Augen, um die aufkommenden Tränen, die sich automatisch zu bilden drohten, unter Kontrolle zu halten. Was mit ihr geschah, bedeutete für sie nichts anderes als den sicheren Tod. Auf eine äußerst raffinierte und sehr grausame Art und Weise. Wie konnte es nur möglich gewesen sein, sich mit dem lebensgefährlichen Experiment zu infizieren? Sie durchforstete ihre Erinnerungen nach Erklärungen, fand jedoch keine einzige plausible. Sämtliche Abläufe während der Arbeitszeit erfolgten strikt nach den vorgegebenen Standards. Geschah die Infizierung ungesehen und unbemerkt im Labor, vielleicht während sie des nachts im Bett ihres Penthouses schlief oder möglicherweise bei den halbjährlichen Gesundheitschecks für das Personal der geheimen Forschungslaboratorien? Für sie schien jede Variante im Bereich des Möglichen zu liegen. Wichtig wäre auch zu wissen, wann die Infizierung geschah. Lag diese bereits länger zurück. Wochen oder gar Monate eine schlafende Gefahr im Inneren ihres Körpers, die durch etwas bestimmtes ausgelöst wurde, als sie sich auf der Flucht nach Deutschland befand, um sie zu töten, ehe sie die geheimen Informationen an Dritte weitergeben konnte, oder wurde ihr Schicksal kurzfristig besiegelt vielleicht nur einige Tage oder Stunden, bevor sie New York verließ? Auch hier gaben ihr die möglichen Übertragungswege Rätsel auf, die sie nicht beantworten konnte. Ergebnislos suchte sie nach Antworten. Sie als Biologin war es gewohnt, der Sache bis zum Grundbaustein des Lebens auf den Grund zu gehen und auch Resultate zu präsentieren. Diese außergewöhnliche Situation ... . Sie musste passen. Missmutig seufzte sie auf. Eines stand jedoch unmissverständlich fest: Graham wusste, was sie getan hatte und ließ sie jetzt dafür bitter büßen! Überdies gelang es ihm herauszufinden, wo sie ihren tatsächlichen Wohnort hatte. Sie scholt sich blauäugig, eine Närrin, als sich erneut eine Unterzuckerung anmeldete. Angewidert von sich selbst, mit Schmerzen, die auf der Haut und in ihrem Körper brannten wie das Höllenfeuer höchstpersönlich, und immer noch zitternd wie Espenlaub, band sie ihren Morgenmantel mit dem herabhängenden Gürtel zusammen und schleppte sich keuchend in die Küche, wobei sie theoretisierte, dass ihre ständige Unterzuckerung garantiert etwas mit ihrer schlechten, körperliche Verfassung und den Schmarotzern? in ihrem Inneren zu tun hatte. Was würde also geschehen, wenn ihr Blutzuckerwert viel schneller sank, als sie ihn mit Kohlenhydraten hochschrauben konnte? Insulin würde sie wohl keines mehr brauchen. Sie würde unweigerlich sterben! Eine unsichtbare Nadel stach erbarmungslos mitten durch ihr Herz und peinigte es gewissenlos. Von welcher Seite sie auch die Situation betrachtete: Am Ende stand immer ihr Tod. Nein! Nein! Ich will nicht sterben! Ich ich will leben! Leben! Oh Jack! Jack! Was soll ich nur tun? Wer kann mir helfen? In der Küche riss sie einen ihrer Hängeschränke auf und griff zitternd nach einer mit dem Wort Traubenzucker beschrifteten Dose mit orangefarbenem Deckel. Daneben lagen etliche, leckere Schokoriegel verschiedener Marken, die sie sich gerne mal schmecken ließ, wenn ihr danach war. Jetzt sah sie diese ausschließlich als ungewollte Lebensretter an. Aus einem anderen Schrank nahm sie mit bebender Hand ein Glas, füllte es halb mit lauwarmen Leitungswasser und gab einen großen Schwung Traubenzuckerpulver hinzu. Nachdem sie mit einem langstieligen Löffel kräftig klappernd umgerührt hatte, leerte sie das viel zu süße Getränk angewidert mit einem Mal. Anschließend griff sie nach den Schokoriegeln und verschlang einem nach dem anderen, bis es ihr davon so übel wurde, dass sie eine Esspause einlegen musste. Die Blutzuckermessung sowie ihre Insulinspritzen vernachlässigte sie absichtlich. Diesen Aktionen gab sie keinen Sinn mehr, da ihr Blutzuckerspiegel sowieso in kurzer Zeit wieder gefährlich absinken würde. Höchstwahrscheinlich basierend auf den abartigen Vorgängen in ihrem Körper. Also, was soll's! dachte sie resigniert. In Gedanken holte sie sich ihr Smartphone von der Couch. Dabei interessierte es sie überraschenderweise nicht, dass der Rest ihrer Tasche verstreut lag. Der Akku zeigte halbe Ladung an. Madeleine ging das Telefonbuch durch und wählte eine Nummer. Am anderen Ende reagierte nur der Anrufbeantworter. Erneut blätterte sie ihre Kontakte durch und wählte eine weitere Nummer. Es tutete endlos, doch niemand hob am anderen Ende ab. Verdammt! Erschöpft, von Übelkeit und aufkommenden Sodbrennen geplagt, schlich Madeleine zurück in die Küche und setzte sich an den ovalen, gläsernen Küchentisch. Die Dinger in ihr krabbelten unermüdlich weiter. Sie musste es ertragen. Es sei denn es sei denn, sie nahm sich ein Messer und schnitt sich die verdammten Viecher eigenhändig raus. Nein. Die Ernüchterung folgte postwendend. Sie seufzte erneut. Dazu besaß sie nicht genug Mut. Nicht genug Mut! Außerdem war sie doch nicht psychisch krank. Scheiße! Scheiße! Wahrscheinlich ... . Nein, sie würde verbluten. Oder ... . Ach, egal . Also, wie lange konnte sie wohl ihren Tod hinauszögern? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Länger? Alles schien ohne Sinn. Und immer noch zitterte sie. Sie ließ es gewähren. Bot die ununterbrochene Esserei von zuckerhaltigen Lebensmitteln überhaupt eine Lösung? Eine Chance zu überleben? Sie würde all ihre Vorräte aufessen müssen, um am Leben zu bleiben. Und was dann? Ihre Überlebenschance sank wieder rapide nach unten. Wie spät war es überhaupt? Sie schaute auf die leise tickende Küchenuhr. Schon 4.35 Uhr. Wie die Zeit verging. Unfassbar! Und sie saß hier immer noch untätig herum! Wie konnte sie ihr Verhalten nur verantworten? Sollte sie sich sich noch heute einem Arzt anvertrauen? Sie dachte an die befreundete Medizinerin. Oder lieber gleich die 112 informieren? Sie schielte zum Telefon. Medizinisches Personal konnte ihr in hohen Dosen und obendrein intravenös Glucose verabreichen, vermutlich würde sie in ein künstliches Koma versetzt werden, bis ja, bis wann denn überhaupt? Bis sie doch tot war aufgrund von absolutem Kohlenhydratemangel und der zerstörerischen Lebensweise der in ihr befindlichen Biester, die ihre Organe sicher durchlöcherten wie ein Schweizer Käse, oder irgendjemand irgendwann die pathologische Veränderung ihres gemarterten Körpers begriff und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnte, wenn es denn welche gab? Madeleine schüttelte automatisch den Kopf. Ooh nein! Graham würde alle unliebsamen Mitwisser töten lassen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie durfte auf gar keinen Fall zulassen, dass weiter Unschuldige starben. Doch wenn sie jetzt das Zeitliche segnete, wer sorgte dann dafür, dass die Öffentlichkeit von Graham und seinem widerwärtigem Projekt erfuhr? Madeleine lächelte innerlich über ihr eigenes Genie und Geschick. Zwar hatte ihr dieser schleimige, verräterische Bernhardt Jackson die MiniDaten-Disc mit den wertvollen Informationen abgenommen, aber einen Trumpf verbarg sie noch und sie hoffte, dass die richtigen Leute diese Infos fanden, korrekt entschlüsselten