Jeannette Kneis

SERUM


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      "Weil sie es lieber sähen, wenn ich eines Tages die Firma übernehmen würde. Mein Vater wird im kommenden Januar 69 Jahre. Er will sich endlich zur Ruhe setzen und seine Weltreisepläne per Schiff in die Tat umsetzen, so lange er noch fit dafür ist. Und meine Mutter schafft es krankheitsbedingt nicht, die Leitung zu übernehmen. Es tut mir ja leid für meine Eltern, dass ich nicht in ihre Fußstapfen trete. Ich liebe meinen jetzigen Beruf zu sehr, um ihn aufzugeben. Schon als Kind wollte ich immer nur Polizist werden. Meine Eltern konnten diese Neigung damals wie heute nicht verstehen. Ich habe nun mal nicht das Verlangen täglich mit Schlips und Kragen stocksteif hinterm Schreibtisch zu hocken und mit irgendwelchen in- und ausländischen Geschäftsleuten ellenlange Verhandlungen und Diskussionen zu führen, bis mir der Kopf raucht. Ich denke nicht, dass ich dazu geschaffen bin. Und ich habe auch nicht die Absicht, mich überzeugen zu lassen. Auch nicht mit einem sechsstelligen Jahresverdienst. Das kannst du mir glauben." Er seufzte. "Ich glaube, dass hab' ich dir auch schon zum x-ten Mal erzählt, oder?"

      "Stattdessen bringst du unliebsame Leute zur Strecke. Was bist du nur für ein Sohn. Deinen Eltern solche Sorgen zu bereiten." Sie spielte natürlich nur die Entrüstete.

      "Ich liebe halt die täglichen Überraschungen, die die Polizeiarbeit eines Kriminalkommissars mit sich bringt", versicherte er mit einem zufriedenen Lächeln.

      "Und ich puzzle gern an kriminellen Stories."

      Beide mussten schmunzeln, obwohl Constanzes Gedanken unwillkürlich zu ihren Eltern sprangen, die väterlicherseits nun gar kein Verständnis für ihren Traumberuf zeigten. Seitdem sie ihren Eltern, damals nach dem Abitur, verkündet hatte, dass sie sich (heimlich) bei der Polizeischule angemeldet habe, sprach ihr Vater kein einziges Wort mehr mit ihr. Sie kam sich einerseits vor wie eine Verräterin an der Familie und andererseits total gedemütigt und missverstanden. Ihr Vater verstand es einfach nicht, den Wunsch der Tochter zu akzeptieren. Er wollte immer, dass sie einen wichtigen, kaufmännischen Beruf, Managerin oder so erlernte, um viel Geld zu verdienen, was ihr Vater nie hatte. Einst in einem angesehenen Betrieb gearbeitet, wurde er entlassen und bekam nur noch einen Job als Reinigungskraft in seinem Alter. Die Wut an anderen auszulassen, war aber auch nicht gerade die beste Variante, aber wahrscheinlich die einfachste. Jedenfalls, kurz darauf zog sie in ihre eigenen vier Wände, um die non-verbale Aggressivität ihres Erzeugers nicht länger ertragen zu müssen, die sie sonst womöglich in ein depressives Elend gestürzt hätte. Warum er so reagierte, hatte sie bis heute nicht wirklich in Erfahrung bringen können. Ihre Mutter hingegen akzeptierte die Entscheidung, Polizistin zu werden, auch wenn sie den Job für eine Frau viel zu gefährlich hielt. Gerade in der heutigen Zeit, wo keiner mehr Respekt vor der Polizei zeigte. Sie sprachen oft über die Ausbildung und ihrem Beruf im Eiscafe, auf der Parkbank oder bei einem gemütlichen Spaziergang, und Constanze beschwichtigte ihre Mutter häufig, dass für die ganz gefährlichen Einsätze immer noch das SEK und andere Spezialeinheiten zur Verfügung standen. Bis zum heutigen Tag führten sie eine angenehme Mutter-Tochter-Beziehung, bei der sie sich gegenseitig Respekt zollten, gleichermaßen über spontane, witzige Aussagen herzlich lachen konnten und hin und wieder, wenn beide die Zeit dazu hatten, vergnügliche Shopping-Touren in der Stadt unternahmen.

      "Und du willst mich wirklich nicht begleiten?" fragte Michael hoffnungsvoll. Er setzte noch einmal sein Welpengesicht auf, um seine Liebste zu überreden. Mit Constanze an seiner Seite gaben sich die Abende bei seinen Eltern immer etwas angenehmer und nicht all zu steif und prüde. Die Frau erfüllte die Herzen Michaels Eltern durch ihre pure Anwesenheit mit einem Hauch von Wärme. Das ließ auch sein Herz dahinschmelzen wie ein Klumpen Eis in der Sahara.

      "Sorry, aber ich kann nicht. Ich habe meiner Tochter bereits seit drei Wochen versprochen, mit ihr heute Nachmittag ins Fitnessstudio zu gehen, damit wir uns wenigstens ein Mal im Monat sehen. Als Flugbegleiterin ist sie doch ständig unterwegs. In ein paar Stunden kommt sie aus Singapore zurück und morgen Abend fliegt sie schon wieder weiter nach Hong Kong. Die Gelegenheiten, eine anständige Mutter-Tochter-Beziehung zu führen sind echt rar. Deshalb muss ich jede Chance nutzen. - Eigentlich weißt du doch, wie es in meiner Familie ausschaut. Also löchere mich nicht mit unnötigen Fragen, klar!"

      "Jaah, schon." Er dehnte die beiden Worte unnatürlich in die Länge. "Еs ist trotzdem schade. Irgendwie gehöre ich doch auch zu deiner Familie, auch wenn es inoffiziell ist. Ich hatte so gehofft, dass du deine Meinung noch änderst." Er bettelte sie an, wie ein kleines Kind.

      "Beim nächsten Mal. Versprochen. Ich kann den Termin mit meiner Tochter nicht absagen! Sie wäre unendlich traurig. Und ich würde mir deswegen tagelang Vorwürfe machen und Schuldgefühle einreden. Du hast mich jeden Tag an deiner Seite." Sie hasste es, privat Prioritäten setzen zu müssen. Aber dieses Mal hatte ihre Tochter aus erster und sehr kurzer Ehe, ihr Ehemann starb zwei Jahre nach der Geburt ihres Kindes an einem bösartigen Krebsleiden, absoluten Vorrang. Sie seufzte. Natürlich war ihr letzter, gemeinter Satz nicht mit der polizeilichen Partnerschaft zu vergleichen. Körperlich mussten Michael und Constanze einen gewissen Abstand wahren, sachlich bleiben, keine zu verliebten Blicke austauschen, um bei den Kollegen nicht als Pärchen aufzufallen. Professionell bleiben. Geistig und seelisch verband die beiden jedoch ein unzerreißbares Band der Liebe. Und das seit vielen Jahren.

      Michael verstand die Angelegenheit auf sachlicher Ebene natürlich, wenn auch gefühlsmäßig mit echtem, tiefgehenden Widerwillen. Dennoch guckte er sie hartnäckig sehnsuchtsvoll bettelnd an, obwohl er wusste, dass sie ihm keine Chance mehr geben würde, weil sie einfach nur Recht hatte.

      "Hör auf, Michael!" Sie seufzte fast wehleidig und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die herrlich unrasierte Wange. "Komm!" Sie schniefte vernehmbar. "Lass uns anfangen, ehe wir noch völlig vom Thema abweichen oder gar vergessen, warum wir überhaupt hier sind!" Jedes ihrer Worte unterstrich sie mit einer guten Prise Autorität. Schließlich war sie die Dienstältere und zugleich Leiterin ihres Zweier-Teams.

      "Ja, Chefin!" knurrte ihr Partner.

      Polizeikommissarin Constanze Müller griff in das große Fach der Seitentür und holte aus einer schwarzen Mappe eine sandfarbene Akte hervor, die sie auf ihrem Schoß ausbreitete. Polizeiakten verließen in der Regel niemals die Dienststelle, da die Verlustgefahr zu groß war. Doch ihr Chef hatte dieses Mal ein Einsehen, da die Zeit für die Vorbereitung auf den neuen Fall sehr knapp bemessen war, und weil es sich nicht wirklich um eine Polizeiakte handelte, denn die Person, über die der Bericht Auskunft gab, hatte in ihrem Leben noch keine Straftat begangen und war auch niemals Opfer einer solchen geworden. Es handelte sich also eher um eine ganz normale Informationssammlung, die in aller Eile zusammengestellt worden war. Die erste Seite füllte das A4-große Farbfoto einer attraktiven Frau im grauen Hosenanzug und einer unglaublich schönen, braunen Löwenmähne, die hastig über die Straße irgendeiner amerikanischen Großstadt zu ihrem Auto, einem feuerroten Porsche, eilte. Einige Kopien von Zeitungsartikeln in deutscher und englischer Sprache folgten. "Doktor Madeleine Kurz, 42 Jahre, ledig. Keine Kinder, keine Geschwister oder sonstige Angehörige. Und offensichtlich auch keine Freunde. Ihre Eltern, beides Wissenschaftler auf den Gebieten der historischen Anthropologie, Archäologie und Paläontologie, verschwanden vor zwölf Jahren bei einer Expedition in den peruanischen Anden. Sie kamen nie zurück", begann sie und ihre Stimme klang jetzt rundherum sachlich. "Geboren und aufgewachsen ist sie in Leipzig, wo sie ebenfalls studierte und anschließend für zweieinhalb Jahre mit großem Erfolg für einen aufstrebenden, privaten Pharmaziekonzern namens M.O.R.E. Neopharm in Sachsen tätig war. Von Beruf ist Doktor Kurz Biologin mit großen Ambitionen zur Biochemie, Mikrobiologie und Biogenetik. Sie wurde vor einigen Jahren zusammen mit zwei russischen Wissenschaftlern für den Nobelpreis in Medizin nominiert. Im letzten Jahr brachte sie sogar ein wissenschaftliches Buch mit dem Namen Discovery DNA heraus. Es ist in über zwanzig Ländern erschienen. Im Laufe ihrer Karriere außerhalb Deutschlands arbeitete sie bei verschiedenen Firmen, unter anderem in Russland und Japan; und zuletzt in den USA bei der international agierenden Messerschmidt-Hancock Unternehmensgruppe mit insgesamt rund 738.000 Mitarbeitern und einem gigantischen Jahresumsatz von 550 Milliarden US-Dollar, wenn man alle Tochtergesellschaften und Beteiligungen berücksichtigt. Von Babyspielzeug bis Hightech stellen die praktisch alles her. Wow, die Summe muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Oh man, da können wir mit unseren Mini-Ost-Gehältern nicht mithalten."

      "Steht