Jeannette Kneis

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um das restliche Gepäck aus dem Taxi zu holen, welches er im Flur abstellte. Anschließend führte ihn sein Weg nochmals in das Wohnzimmer. Er wollte nicht einfach gehen, bevor er sich nicht vergewissert hatte, dass es seinem Fahrgast tatsächlich besser ging. Er setzte sich behutsam auf einen der weißen Sessel und wartete, die Unterarme auf den Oberschenkeln ruhend. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Zwölf Minuten. Sollte er die nassen Schuhspuren im Haus schnell mit einem Lappen aus seinem Taxi entfernen? - Nee. Wozu der Aufwand. Wenn es der Frau besser ging, würde sie die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Vielleicht hatte sie ja auch 'ne Putze. Fünfzehn Minuten. Für fast das Doppelte an Trinkgeld, konnte er noch einen kleinen Moment warten. Dabei begutachtete er abwechselnd den Gesichtsausdruck der Frau und die offensichtlich teure und sehr moderne Einrichtung ihrer Wohnstube.

      Endlich schlug Doktor Kurz die Augen auf. Zu Beginn noch unklar, schärfte sich ihr Blick nach mehrmaligem Augenzwinkern, und sie schaute in das runde Pfannkuchengesicht mit den kleinen Schweinsäuglein ihres hilfsbereiten Taxifahrers. Ein prächtiger, gepflegter Schnauzer zierte noch immer seine Oberlippe. Unter seiner englischen Kappe drückten sich vereinzelt Schweißperlen hervor, die sich in den hochgezogenen Augenbrauen verfingen. An seinem Doppelkinn sprossen die ersten Barthaare.

      "Meine Tasche?" war Kurz' erster Satz, der ein wenig hysterisch klang. Unter ihrer Kleidung stieg die Anspannung. Ihre Gesichtszüge versteinerten. Noch fehlte ihr die Kraft sich aufzurichten. Also blieb sie liegen, wie sie lag, halb sitzend und halb liegend.

      "Liegt direkt neben Ihnen. Rechts. Es ist noch alles drin. Hab' nur den Schlüssel benutzt. Musste ja irgendwie hier rein."

      "Gott sei dank!" nuschelte Madeleine und entspannte ihr Nervenkostüm. "Вin ich zu Hause?!" Es klang wie Frage und Feststellung zugleich.

      Die Gesichtszüge des korpulenten Mannes entspannten sich sichtlich. "Ja. Ich hab' Sie in Ihr Haus getragen, weil Sie kaum noch bei Bewusstsein waren. Geht es Ihnen jetzt besser?"

      Zwar waren die Symptome der Unterzuckerung abgeklungen, doch die Übelkeit und der Schmerz in ihrem Inneren wollten einfach nicht weichen. Wenigsten zeigten sie ein wenig Mitleid mit der gebeutelten Wissenschaftlerin und marterten sie im Moment nicht all zu heftig. Gerade noch an der Grenze, um Haltung zu bewahren. "Danke! Ich denke, ich komme jetzt wieder alleine zurecht. Ich ruhe mich nur noch ein klein wenig aus. Sie haben mir sehr geholfen." Madeleine hoffte, überzeugend genug geklungen zu haben.

      Er nickte und erhob sich vom Sessel. Das Polster hinterließ eine tiefe Senke.

      "Habe ich Ihnen ausreichend Trinkgeld gegeben?"

      Der Mann schmunzelte, ohne auf den Betrag näher einzugehen. "Ja, allerdings."

      "Gut. Gut. Vielen Dank für Ihre Mühe!" Sie zwang sich dazu, ihrem Helfer ein dankbares Lächeln zu schenken. "Sie verzeihen, wenn ich Sie nicht zur Tür begleite."

      "Kein Problem! Ihr Koffer steht im Flur. Gute Besserung!" wünschte der Taxifahrer leicht verlegen und verschwand dann eiligen Schrittes, kaum dass ihm die letzte Silbe über die Lippen kam, aus dem exklusiven Einfamilienhaus seines weiblichen Fahrgastes, ehe noch unvorhergesehene Dinge auf ihn zukamen, die nichts mit Personenbeförderung zu tun hatten. Er fuhr allerdings nur ein paar Straßen weiter, stieg dort wieder aus und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an.

      Madeleine hörte die Haustür geräuschvoll ins Schloss fallen. Die schmutzigen Schuhspuren ignorierte sie für's Erste. Mehr als erleichtert seufzte sie auf und flüsterte dann leise: "Еndlich allein. Endlich! Diese Ruhe! Die Geborgenheit der eigenen vier Wände. Himmlisch! Was für ein unschätzbarer Genuss. Ich könnte ewig hier liegen und nichts tun." Sie runzelte die Stirn. Womit habe ich all das nur verdient? Womit? Darauf wird mir wohl niemand eine Antwort geben können. Sie seufzte lauter. Ich muss so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen und meine Mission beenden. Meine Mühen sollen nicht umsonst gewesen sein. Für einen all zu köstlichen Moment blieb sie noch auf der viel zu gemütlichen Couch liegen, bevor sie sich mühsam und abgeschlagen erhob. Mit der Zeit würden ihre Kräfte zurückkehren. Mit der derzeit zu ertragenden Symptomatik konnte sie auskommen. Sie wusste genau, dass sie kein Analgetikum und Antiemetika im Haus aufbewahrte. Hatte sie auch nie gebraucht. In der Not konnte sie immer noch den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst oder, wenn es lebensbedrohlich für sie werden würde, gar die 112 anrufen. Zwei Schritte Richtung Badezimmer und ein erneuter brennender Schmerz durchzuckte ihren Körper. Die Marter begann von Neuem. Leise aufschreiend und sich aus purer Verzweiflung auf die Unterlippe beißend, krümmte sich die junge Frau tief. Tränen traten ihr blitzartig in die Augen und ergossen sich kurz darauf über ihre Wangen. Übelkeit. Schmerz. Unerträglicher Juckreiz. Als würden kleine Tiere wie am Fließband durch ihren Körper wandern. Ein eiskalter Schauer verdrängte diesen widerlichen Gedanken. Ihre Muskulatur spannte sich schmerzhaft an. Mühsam und stöhnend schleppte sie sich ins Bad. Sie zitterte vor Angst und Unsicherheit. Da half ihr auch nicht der Wintermantel, den sie immer noch trug. Das Licht schaltete sich automatisch über Sensoren ein. Ein lindgrünes Zugrollo mit Blattmotiv versperrte die Aussicht nach draußen. Der Heizkörper sendete keinerlei Wärme aus, da die Besitzerin von niemandem erwartet worden war. Auch die Fußbodenheizung blieb kalt. Mit einem Dreh war das kleine Problem behoben. Das starke Rauschen in der Sprossenheizung bekundete ihr, dass es bald angenehm warm im Bad sein würde. Madeleine Kurz entledigte sich all ihrer Bekleidung, die sie auf einem aus hellem Rattan meisterlich geflochtenen Hocker eher gleichgültig ablegte. Die Winterstiefel schleuderte sie lustlos daneben, was gar nicht ihrer Art entsprach. Nur Slip und BH behielt sie am Leib. Dann wagte sie, was ihr auch jetzt schon genug Furcht und Schrecken einflößte. Der Blick in den Spiegel. Sehr langsam brachte sie ihren Körper vor ihm in Position, bis ihr der volle Anblick nicht mehr erspart blieb. Und der bescherte ihr einen immensen Schock. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Jeder Muskel, jede Faser ihres Körpers zitterte sichtbar und die Knie wollten ihr den Dienst versagen. Doch setzen wollte sie sich nicht. Sie musste sehen, was mit ihr geschah. Ihre Gesichtsfarbe verlor sich in einem Weißgrau. Die Haut, die sich über Brust und Bauch spannte und wie Feuer brannte, zeigte vermehrt rot und heiß glühende, nässende Flecken auf einem Grund extrem trockener, spannender Haut. Wie kleine Vulkane, die kurz vor dem Ausbruch standen. Und da! Da! Äh! Sie musste mehrmals hinschauen und auch mehrmals den Kopf schütteln, bevor sie kreischend und nach Luft ringend einige Schritte zurückging. Denn was ihr Spiegelbild zeigte, glich einer Szene aus einem Horrorfilm. Нein! Nein!! Sie würgte den Kloß hinunter, der sich drohend in ihrem Hals festzusetzen gedachte. Ihre Atmung beschleunigte sich, dass sie fast hyperventilierte. Etwas krabbelte dicht unter ihrer Haut entlang. Ihre vor wahnsinniger Angst glühenden Augen, aus denen heiße Tränen platzten, saugten sich unwillkürlich an der bizarren Bewegung fest. Aaah! Ein Schauer von frostklirrender Polarkälte jagte über ihren Rücken und hinterließ ein unangenehmes, zwiebelndes Echo. Nein! Nein! Sie träumte! Ganz sicher träumte sie nur. Einen äußerst realistischen Traum. Jeden Moment würde sie erwachen. Ganz bestimmt. Sekundenlang verharrte sie in einer Starre. Oder doch nicht? Madeleines Puls raste mit geschätzten 200 Sachen durch ihren Körper und ließ ihr Herz kräftiger pumpen als je zuvor, dass es schmerzte. Das Adrenalin, welches ihre Nieren dabei produzierten, überschwemmte gewissenlos ihren gestressten Körper. Statt Blut floss Adrenalin in ihren Adern. "Das ... das darf nicht wahr sein!" Angstschweiß lief ihr am Gesicht hinab. Ihr Teint sah totenbleich aus, der Lidschatten von Tränen verwischt und die dunklen Ringe unter ihren Augen traten nun deutlich hervor. Sie sah aus wie ein Zombie mit Perücke. Eine lebende Tote.

      "Das ist es aber!"

      Madeleine fuhr erschrocken herum. Riss dabei instinktiv einen seidenen Morgenmantel von zartem Rosa von einem Haken neben der sich erwärmenden Sprossenheizung, um ihre Blöße zu bedecken.

      Ein älterer und äußerst attraktiver Herr mit silbergrauem Haar, eingehüllt in eine Aura aus männlicher Anziehungskraft und einem herb riechenden Eau de toilette, stand lässig und die gesamte Türbreite ausfüllend am Eingang zu ihrem Bad und blickte ihr aus seinen strahlend himmelblauen Augen triumphierend entgegen. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, elegante Schuhe, der kalten Jahreszeit entsprechend, und schwarze Lederhandschuhe von allerfeinster Qualität.

      "Sie?" fragte die Hausbesitzerin langgezogen voller Unverständnis und ihre Augen weiteten sich auf die Größe von Tennisbällen,