Jeannette Kneis

SERUM


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an einen guten Verdienst.

      Madeleine zwang sich zu einem Lächeln, das sie dem stark untersetzten Ende Fünfziger schenkte. "Das ...", sie holte tief Luft, "wäre ganz in meinem Interesse."

      Der hilfsbereite Mann nahm den roten Hartschalenkoffer und verstaute ihn schwungvoll im Kofferraum seines Fahrzeuges, das nur ein paar Meter entfernt am Straßenrand, auf den für Taxen gekennzeichneten Flächen stand. Danach wälzte er seine vollschlanke Figur auf den Fahrersitz. Sein Fahrgast hatte sich derweil die wenigen Meter zum Taxi geschleppt und es sich auf einem der hinteren Plätze erleichtert eingerichtet. Endlich sitzen! Nur mit Mühe gelang es ihr sich anzuschnallen. Der Schmerz. Die eiskalten Finger. Die Gedanken abwegig.

      Der Taxifahrer drehte sich noch einmal um, soweit es sein kugelrunder Leib zuließ. Er sah sichtlich besorgt aus. "Sie schauen nicht gut aus", stellte er fest, während er an einem neuen Pfefferminzbonbon lutschte. "Soll ich Sie lieber in ein Krankenhaus bringen? Die Helios-Klinik in Schkeuditz wäre das nächstgelegene."

      "Nein, kein Krankenhaus!" polterten die Worte überraschend klar aus der Angesprochenen heraus. "Nur nach Hause." Gleich darauf stöhnte Madeleine schon wieder vor Schmerz und Übelkeit. Die Augenlider schließend lehnte sie sich zurück. Die Aktentasche lehnte an ihrer Seite, aber sie nahm diese kaum wahr.

      Der Taxifahrer gab sich widerwillig mit der Antwort zufrieden. Seinen kranken Fahrgast in ärztliche Obhut zu geben, wäre ihm weitaus lieber gewesen. Die junge Frau lehnte medizinische Versorgung jedoch ab. So fügte er sich notgedrungen und wünschte, dass die Fahrt problemlos verlief.

      Ich muss es schaffen! Ich muss! Ich muss es schaffen! Warum bin ich nur immer auf mich allein gestellt? Madeleine stöhnte gequält. Diese heftige Attacke aus dem Inneren ihres Körpers griff sie brutal und rücksichtslos an. Obwohl es noch ein weiter Weg bis nach Hause war, hoffte sie dennoch, schnell ihr Ziel zu erreichen. Schließlich gab es in der Nacht weniger Verkehr und die Hauptstraßen waren meist geräumt und gestreut. Die Hälfte der Ampeln blieb aus, um Strom zu sparen.

      "Entschuldigen Sie, junge Frau! Wenn Sie mir noch sagen, wohin die Fahrt gehen soll!"

      Frau Dr. Kurz gab ihre Adresse bekannt, der Fahrer tippte das Ziel ins Navi ein und das Taxi setzte sich ohne weiteren Verzug in Bewegung. Sie verließen über eine von Räumfahrzeugen präparierte, komplizierte Straßenführung das attraktiv angelegte Areal des Leipziger Flughafens.

      "Wenn Sie sich übergeben müssen, sagen Sie mir bitte Bescheid! Dann halte ich am Straßenrand an!" bat der Fahrer. Er hatte keine Lust darauf, dass die Frau ihm den Innenraum seines E-Klasse Dienst-Mercedes voll reiherte. Die Sauerei wieder zu entfernen, wäre die reinste Sauerei. Sein Chef würde nicht begeistert sein.

      "Ja - in - Ordnung!" erwiderte sein Fahrgast mit kraftloser Stimme.

      Sie fuhren in der Dunkelheit eines eiskalten Novembers endlos wirkende Landstraßen entlang. Das helle Scheinwerferlicht kroch gierig voraus. Manchmal tauchten zwischen den Bäumen gespenstische Schatten auf. Das Radio dudelte leise vor sich hin und das Taxameter meldete rote Zahlen, dessen Betrag sich kontinuierlich erhöhte. Die Wärme der Klimaanlage lullte die beiden Insassen ein. Der Taxifahrer blickte immer wieder mit nervösem Ausdruck durch den Innenrückspiegel in den Fond des Mercedes, um nach seinem kranken Passagier zu schauen, während er hin und wieder einen Schluck eines erkalteten Kaffee to go trank und sein Bonbon geräuscharm im Mund hin und her wälzte. Offensichtlich schlief sein Fahrgast, wobei er jedoch so wehleidig stöhnte, das einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Sollte er die junge Frau lieber doch in das nächst gelegene Krankenhaus fahren? Auch ohne ihre Einwilligung? Wer weiß, was sie sich während ihrer Reise an Krankheitserregern eingefangen hatte. Er wusste nicht recht, wie er sich entscheiden sollte und fuhr deshalb einfach weiter. Je schneller er sie ans Ziel brachte, um so schneller war er die problematische Passagierin wieder los. Na ja, besser die kranke Frau im Fond, als ein Verrückter mit einer Knarre an seinem Kopf, dachte er mit dem nächsten Atemzug. Irgendwann erreichte das Taxi seinen Bestimmungsort. Nur jede zweite Straßenlaterne spendete Licht, so dass einige Häuser im Dunkeln lagen. Doktor Kurz' Haus wurde gerade noch von dem Restlicht einer entfernt stehenden, hoch aufragenden Lampe berührt.

      "He! Junge Frau! Wir sind da!" Der Tenor des Taxifahrer erfüllte den Innenraum des Fahrzeugs.

      Madeleine schreckte mit einem ängstlichen, hohen Laut auf. Benommen blickte sie sich um, erkannte ihre Situation und schielte dann zum Seitenfenster hinaus, um sich zu vergewissern, das sie vor ihrem Haus standen. Zwischen zwei verschwommen Blicken hindurch erkannte sie ihr Eigenheim. Ihr bedenklicher Gesundheitszustand ließ es schwerlich zu, dass sie sich erleichtert fühlen konnte. Dann glitten ihre Augen zum Taxameter. Eine undeutliche, vierstellige Summe blickte sie mahnend an. "Кlein' Moment", das t verschluckte sie halb, "ich such das Geld 'raus." Für das heraus fehlte ihr schon die Kraft zum Sprechen. Nicht mehr ganz bei Sinnen wühlte sie in ihrer Tasche, bis sie das Portemonnaie endlich erfühlte. Sie holte den einzigen Schein, von dem sie noch halbwegs wusste, dass es ein 50 Euro-Schein war, daraus hervor und reichte diesen zitternd und verhalten keuchend dem Taxifahrer. "Stimm so!" beschied sie matt. Sie befand sich kaum in der Lage die Augenlider zu heben. Ihr Bewusstsein taumelte plötzlich irgendwo zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit. Ein Teil in ihr kämpfte gegen den Untergang an, während der andere bereits aufgegeben hatte. Wahllos warf sie ihre Geldbörse zurück in die Tasche und wollte aussteigen, hatte sich jedoch weder abgeschnallt, noch fand sie den Türgriff. Ihre Fingernägel kratzten unrhythmisch an der Innenverkleidung.

       Was was is nur mid mir los? Schonn wiedr ne Hy-po?

      "Danke!" erwiderte der Mann verblüfft. So großzügiges Trinkgeld war ausgesprochen selten. Er blickte zu seinem Fahrgast zurück. Mitleid und Sorge übermannte ihn. Unter seiner Haut breitete sich Unwohlsein aus. Er musste ihr unbedingt helfen. Als ehrlicher Mann blieb ihm nichts anderes übrig. "Warten Sie, ich helfe Ihnen!" rief er sie an, als er die Frau erschrocken beobachtete, wie diese mit der hinteren, rechten Autotür kämpfte und verlor. Eilig steckte er den Schein weg, um seinem kranken Passagier zu helfen. Wie er feststellten musste, konnte sich die Frau kaum noch auf den Beinen halten, nachdem er sie aus dem Fond gezogen hatte. Die Tasche, die ihr aus der Hand zu rutschen drohte, nahm er reflexartig an sich. Er legte sich ihren linken Arm über seine breiten Schultern und griff mit seiner rechten Hand um ihre Hüfte und hoffte auf diese Art vorwärts zu kommen. Doch die Frau klebte wie ein nasser Sack an ihm, kaum noch imstande selbst ein paar Schritte zu gehen. Er musste sie zum Hauseingang halb schleifen, halb tragen, so schwer hing sie an seiner Seite. Kaum zu glauben bei ihrer zierlichen Statur. Sein gewaltiger Bauch trug noch zu zusätzlichen Unannehmlichkeiten bei dem Transfer seines Fahrgastes bei. Schnaufend und völlig durchgeschwitzt schaffte er es mit ihr durch das Gartentor und bis zum Eingang des Bungalows. Glücklicherweise bescherte ihm die über einen Sensor eingeschaltete Außenbeleuchtung ausreichend Helligkeit.

      "Wo ist der Haustürschlüssel? Junge Frau? Der Haustürschlüssel?" Er konnte sie kaum noch halten. Seine Kräfte verließen ihn merklich. Er verfügte kaum über die geeignete Kondition schwere Lasten zu bewegen. Sie blieb ihm eine Antwort schuldig. Also kramte er, wenn auch widerstrebend, umständlich in der Aktentasche danach. Schnell fand er ihn in einer innen liegenden Seitentasche. Eilig öffnete er die Haustür. Die Frau begann ihm aus den Händen zu gleiten. Mehrmals musste er nachfassen. Er machte Licht und hievte die Frau zu einer einladenden, großzügigen Couch, wo er sie halb liegend, halb sitzend ablud. Erschöpft und erleichtert atmete der Taxifahrer auf. Und ehe er sich fragen konnte, was er als nächstes tun sollte, nahm die Hausbesitzerin ihm unerwartet die Entscheidung ab.

      "Traumsucker!" flüsterte Madeleine mit fadendünner Stimme. "Trau-bn-sucka!"

      "Was? Was haben Sie gesagt?" Instinktiv hatte er es wohl doch verstanden. Er wühlte nochmals, dieses Mal mit weniger Widerwillen, eher mit dem Drang, der Frau das Leben zu retten, in der Tasche und nahm eine kleine Packung mit Dextrose Tabs heraus. Im Gegenzug ließ er die Hausschlüssel hineinfallen. Er führte eines der kleinen, weißen Täfelchen direkt an ihre Lippen und sagte deutlich: "Traubenzucker." Reflexartig öffnete sich Madeleines Mund. Langsam zerging ihr das lebenserhaltende Tab auf der Zunge. Drei weitere Tabs folgten. Der Taxifahrer beruhigte sich nun auch zunehmend. Er hatte alles richtig gemacht. Die junge Frau war Diabetikerin