Jeannette Kneis

SERUM


Скачать книгу

verwöhnte, und blieb nachdenklich an der Flugzeugwand einer anderen, in starkem Scheinwerferlicht stehenden American Airline Maschine kleben. Wenn ich doch schon zuhause wäre. Die Geborgenheit und Sicherheit meiner eigenen vier Wände. Ihre manikürten Fingernägel fuhren unbewusst über ihr Dekollete. Dieser Juckreiz machte sie noch wahnsinnig. Es lag wohl an dem enormen psychischen Druck, dem sie seit Monaten ausgesetzt war. Psychosomatisch. Er würde ganz sicher verschwinden, wenn sie erst einmal daheim war, dem mit Abstand schönsten Ort auf der Welt. Zufrieden mit der positiven Prognose zeichnete sich ein Schmunzeln auf ihrem Gesicht ab, welches sich in der rundlichen Scheibe des Fensters widerspiegelte. Eine halbe Stunde später befand sich das Flugzeug in dem nächtlichen Luftraum über der Ostküste Nordamerikas Richtung Europa. In etwa acht Stunden würde es auf dem Londoner Flughafen Heathrow landen. Nach einem kleinen Aufenthalt ginge es dann mit der Lufthansa weiter nach Deutschland.

       Good bye, Jack!

      * * * * *

      "Ma'am?"

      "Mrs. Kurz!"

      Die Angesprochene kam nur unter kräftezehrenden Bemühungen ihres abdriftenden Bewusstseins zu sich. Verschwommen blickten die Augen in die schemenhaften Gesichter von gespensterhaften Wesen. Wie aus weiter Ferne nahm sie dumpfe, verzerrte Stimmen und Geräusche wahr, konnte diese jedoch niemanden zuordnen. Ihr Körper fühlte sich schwer wie Blei an. Auf ihrer Haut lag klebriger, kalter Schweiß. Heißhunger marterte sie. In ihrem Kopf schien sich kein einziger Gedanke zu befinden. Sie fühlte sich unendlich hilflos. Panik stieg in ihr auf und überrollte sie im nächsten Augenblick mit unbändiger Wucht, und sie konnte nichts dagegen tun. Keine Kontrolle mehr. Gefangen im eigenen Körper. Die junge Frau war auf fremde Hilfe angewiesen. Hil-fe!

      „Ma'am, Sie sehen ganz blass aus. Fühlen Sie sich nicht wohl?" erkundigte sich ein männlicher Passagier mitfühlend nach ihrem Befinden. "Sie scheint nicht ganz bei Bewusstsein zu sein", stellte er gleich darauf fest. "Ist denn hier kein Arzt an Bord?" monierte er sich lautstark.

      "Tut mir leid, Sir, die medizinische Ver... ", versuchte ihm eine der Flugbegleiterinnen höflich und verunsichert zugleich zu erklären.

      Mit einem vernehmbaren "Тschscht!" brachte er sie umgehend zum Schweigen. "Sie will uns etwas mitteilen!" Gebannt starrten die um die Suite versammelten Fluggäste auf den Mund der gesundheitlich angeschlagenen Passagierin.

      "Undr-suckr ... ", lallte sie benommen und musste dabei ihre ganze Kraft aufwenden, um das Wort mit Lippen und Stimme zu formen, welches sie zuvor krampfhaft in sämtlichen Schubladen ihres Gedächtnisses gesucht und Gott sei Dank fand. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, dass sie jemand verstand.

      "Ein Glas Wasser und Traubenzucker!" befahl der Besitzer der männlichen Stimme.

      "Sofort, Mister Jackson!" erwiderte eine junge Frauenstimme und eilte auf dem Trittschall gedämpften Teppich davon.

      "Ma'am, bitte bleiben Sie bei Bewusstsein!" bat die männliche Stimme eindringlich und sorgenvoll zugleich. "Die Flugbegleiterin bringt gleich den Traubenzucker. Verstehen Sie mich! Ihnen wird gleich geholfen! Bleiben sie wach! Kämpfen Sie gegen die Benommenheit an!" Während er zu ihr sprach, rüttelte er an ihren Schultern. Die Frau stöhnte und verspürte das Gefühl, gleich in eine Dunkelheit abzudriften, aus der sie ohne ärztliche Hilfe nicht mehr auftauchen würde. Eine gruselige Vorstellung.

      "Trinken Sie!"

      Ein Glas wurde an ihren Mund herangeführt. Teilnahmslos ließ sie es geschehen. Die ersten Tropfen gingen daneben und benetzten Kinn, Bluse und Kostümjacke. "Trinken! Trinken Sie!" Die männliche Stimme klang jetzt viel energischer und lauter. Nur so konnte er vielleicht noch zu der stark hypoglykämischen Diabetikerin durchdringen. Was die anderen Passagiere über ihn dachten, interessierte ihn dabei nicht im Geringsten. Hier ging es schließlich um das Leben eines Menschen.

      Irgendjemand schien ihren Kopf zu halten. Mühsam wurde ihr der erste Schluck des gesüßten Wassers eingeflößt.

      "Schlucken!" befahl ihr die männliche Stimme.

      Ihr Gehirn reagierte nicht auf den Befehl, doch als die Flüssigkeit Richtung Rachen floss, setzte automatisch der Schluckreflex ein.

      "Sehr gut, Mrs. Kurz!" sagte die männliche Stimme nun wieder sanfter und der nächste kleine Schluck floss bereits über ihre Lippen in den Mund. Und so ging es mühsam und zeitaufwendig weiter, bis das Glas keinen Tropfen mehr hergab. Dafür sank die Rückenlehne des komfortablen Sitzes allmählich nach unten in eine angenehme Schräglage. Das Polster für die Beine verlängerte sich zur selben Zeit und summte sich leise nach oben. Eine weiche Decke wurde über ihren Körper ausgebreitet, deren Wärme sie als sehr wohltuend empfand. Wenig später ruhte ihr Kopf auf einem ebenso weichen, wie wohlriechenden Kissen. Sie fühlte sich mit einem Mal gut behütet. Ohne Probleme. Ohne Sorgen. Wie herrlich. Die Zeit verstrich und Madeleines Sinne schärften sich allmählich wieder. Stimmen und Geräusche wurden von ihr wieder normal und vertraut wahrgenommen. Die bleierne Erschöpfung wich Stück für Stück aus ihrem Körper und die Wärme kehrte zurück. Sie genoss die Genesung erleichtert. Wieder zurück im Leben. Minutenlang blieb sie noch mit geschlossenen Augen liegen, bis sie sich wirklich besser fühlte. Ein spürbar bohrender Blick von links ließ sie jedoch bald darauf die Augen aufschlagen. Sie zwinkerte einige Male, um ein klares Bild zu erhalten. Ein unverschämt attraktiver Mann, um die Fünfzig, silbergraues Haar, markante Gesichtszüge und in einen erlesenen Anzug mit Krawatte gehüllt, saß mit einer geradezu unerschütterlichen, aufrechten Haltung unmittelbar neben ihr auf der stabilen Lehne ihres Sessels und blickte milde lächelnd aus seinen stahlblauen Augen auf sie herab. Seine Hände lagen entspannt auf seinem Oberschenkel. Ohne mit der Wimper zu zucken versprühte er seinen magnetisierenden Charme, der ihn wie eine unsichtbare, aber spürbare Aura umgab.

      "Geht es Ihnen besser?"

      Ein sanftes Kribbeln durchfuhr sekundenlang Madeleines Eingeweide. Oh verdammt, seine dunkle, weiche Stimme erregte sie sofort. Ihre Knie schienen selbst im Liegen weich zu werden wie Pudding und ihr Herz klopfte mehr als deutlich gegen die darüber liegenden Rippen. Sie schämte sich zutiefst für ihr Verhalten, einen absolut Fremden aus reiner Gefühlsduselei anzustarren. Dennoch gelang es ihr kaum die Augen von den seinen abzuwenden. Als würde er sie hypnotisieren. "Ja. Danke!" erwiderte die Frau mit einem Hauch von Stimme und versuchte ihm ein dankbares Lächeln zu schenken, was ihr überraschenderweise mehr als großzügig gelang. Sie räusperte sich. "Ich glaube, Sie haben mir soeben das Leben gerettet", sprach sie leise weiter. Sie spürte, wie ihr Blutdruck sich mühelos nach oben schraubte und ihr Körper ungewollt eine Hitze aufbaute, die sie völlig ausfüllte. Davon blieben auch ihre Wangen nicht verschont. Ihr Puls musste bereits in himmlischen Höhen schlagen. Kaum noch messbar.

      Der ältere Herr sprang auf. "Verzeihen Sie mir meine Impertinenz, dass ich es wagte, mich in Ihrer Nähe niederzulassen."

      Madeleine Kurz hob überrascht die Augenbrauen über die ungewohnte Art des Ausdrucks.

      "Ihr Gesundheitszustand zeigte ein äußerst kritisches Stadium und ich erbot mich, auf Sie zu achten, bis Sie das Bewusstsein wieder erlangten. Dies ist ja nun erfreulicherweise geschehen."

      Madeleine hing an seinen Lippen während er sprach. Sie befand sich immer noch in seinem Bann. Doch dann. Sie wand sich irritiert ab. Oh Gott, was, um Himmels Willen tu ich hier? Ich starre diesen Mann an wie ein Fan seinen Lieblingssänger. Jack! Ich bin nicht mehr ich selbst!

      "Ich werde mich nun in meine Suite zurückziehen, Mrs. Kurz. Wenn Sie etwas benötigen, werde ich gerne für Sie die Stewardess rufen."

      Doktor Kurz blickte mit einer schnellen Kopfbewegung zu ihm zurück. "Sie kennen meinen Namen?" fragte sie sichtlich konsterniert. Ein heftiger Stich in die Magengrube folgte.

      "In der First-class ist dies wohl kein Geheimnis. Schließlich werden wir in diesem Ambiente mit Namen angesprochen."

      "Oh. Ja. Natürlich." Madeleine entspannte sich spürbar. Ihre Blicke begegneten sich erneut. "Übrigens: Vielen Dank, Mister ... ?"

      "Jackson. Bernhardt Jackson." Er neigte ein wenig sein Haupt als Ehrerbietung. "Es war mir ein Vergnügen."