Natürlich sah ich mittlerweile älter aus, doch ich fand noch keine Falten um die Augen, und mir gefiel die Reife, die ich nun im Spiegel sah. Ich kleidete mich neu ein, begann damit, öfter enge, wunderschöne Kleidung zu tragen, kaufte mir Schuhe mit hohen Absätzen und war richtig glücklich. Meinem Mann Christian gefiel mein neues Selbstbewusstsein natürlich, und wir gingen häufiger allein aus. Auch meine Stimmung war gut. Ich konnte wieder von Herzen lachen und war in allen Lebenslagen entspannter. Mein Alltag gestaltete sich entspannter, denn ich war nicht mehr so abgeschlagen, konnte körperlich wieder viel mehr aushalten. Mein Arm schmerzte bei Belastung nicht mehr so schnell. Endlich konnte ich wieder längere Zeit schwimmen, wir gingen klettern, radelten viel, und meine Familie musste fast keine Rücksicht mehr auf mich nehmen. Meine behandelnde Ärztin in der Klinik, Frau Dr. R., machte mir sehr große Hoffnung auf ein zweites Kind. Das war mein größter Wunsch. Nach dem Absetzen meiner Medikamente sollte ich bis zu sechs Monate warten, bis ich schwanger werden durfte. Mein Körper musste genug Zeit bekommen, um alle fötusschädigenden Substanzen abzubauen. Wir fingen bereits an, die Monate rückwärtszurechnen. Ich war so voller Hoffnung und Freude – nichts habe ich mir in den letzten Jahren sehnlicher herbeigewünscht, als gesund, also normal, zu sein, ein zweites Baby zu bekommen und einen Alltag ohne Medikamente zu leben.
Leider sollte es noch längst nicht so sein. Mein Rückfall ereignete sich kurz vor Weihnachten und riss mich so sehr aus der Bahn, wie ich es niemals erwartet hätte.
Es fing mit seltsamen Symptomen an, die allesamt laut Literatur nicht zum Krankheitsbild passen. Doch diese Symptome – über Nacht Pickel und Pustel am ganzen Körper, Müdigkeit, Hüftschmerzen, Schulterschmerzen, Kopfweh – hatte ich früher bei Schüben auch schon mal. Obwohl meine Blutwerte und auch der Ultraschall meiner Arterien zu Beginn nichts vermuten ließen, hatte ich stets eine kleine Stimme im Kopf, die mir sagte: „Es ist wieder da!“ Keiner glaubte mir, und mein Mann versuchte, mich zu beruhigen. Was ihm zeitweise auch gelang. Doch eine Woche vor Weihnachten ging es mir rapide schlechter. Ich bekam Fieber mit Schüttelfrost, konnte kaum mehr aufstehen, mir tat alles weh, und ich verlor extrem an Gewicht. Mein Mann, selbst Kinderkrankenpfleger, nahm mir am Wochenende zu Hause Blut ab, denn ich wollte Gewissheit haben und konnte nicht mehr bis Montag warten. Wir bestimmten einen Entzündungswert selbst, bei dem wir nur zwei Stunden beobachten mussten, wie schnell sich die festen Blutbestandteile absetzen. Bei der Höhe des Wertes sah ich meine Befürchtung schon fast bestätigt. Doch die Hausärztin glaubte am Montag eher an eine Infektion und schickte weitere Proben ins Labor. Der Heilpraktiker, der mir die vergangenen Jahre immer zur Seite stand und mir durch viele Infektionen ohne Antibiotika geholfen hat, vermutete bei mir die Schweinegrippe. Der Verdacht war insofern naheliegend, da es das Jahr der Schweinegrippe war und ich noch dazu in einer Hausarztpraxis arbeitete, wo zu dieser Zeit viele Patienten mit Schweinegrippe behandelt wurden. Doch außer einem kurzen Fieberschub am Wochenende hatte ich keinerlei passende Symptome. Ich musste nicht husten, litt nicht an Übelkeit und musste nicht erbrechen. Mit meiner Angiologin in der Klinik (Frau Dr. R.) besprach ich zunächst telefonisch meine Blutwerte. Sämtliche Entzündungswerte waren stark erhöht, und sie bat mich dringlich, meinen Zustand stationär abklären zu lassen. Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten, und ich hätte ambulant keine Chance auf die nötigen speziellen Untersuchungstermine.
Als mein siebenjähriger Sohn Fabian von der Schule kam und ich ihm sagen musste, dass ich für ein paar Tage ins Krankenhaus müsste, hat er heftig geweint. Doch als er sich ein wenig beruhigt hatte, lief er in sein Zimmer, holte seinen kleinen Stoffaffen und steckte ihn mir in die Reisetasche. Den Affen lieh er mir immer, wenn ich von ihm fort ins Krankenhaus musste. Ich konnte damit dann in der Hand einschlafen und fühlte mich besser. Das wusste Fabian, und ich war sehr gerührt, dass er gleich daran gedacht hatte. Ich empfinde ihn stets als sehr starken Menschen, denn er kann mit Krisensituationen gut umgehen und möchte alles verstehen und erklärt bekommen. So half er mir erstmal weiter, alles in meine Tasche zu packen. Er dachte für mich mit, was ich alles benötigte. Als mein Mann von der Arbeit kam, die er früher abgebrochen hatte, fuhren mich beide in die Klinik. Ich war körperlich sehr schwach und hing am Arm meines Mannes, als wir in die Ambulanz kamen. Wir mussten zum Glück nicht lange warten, meine Angiologin nahm sich gleich Zeit für mich. Die erste Untersuchung war ein Ultraschall meiner Gefäße. Da sah man es: eine neue Engstelle, eine Stenose, an meiner Schlüsselbeinarterie. Meine Ärztin war genauso entsetzt wie ich. Zum Glück war mein Mann bei mir, denn allein hätte ich diesen Moment nicht durchgestanden. Ich lag auf der Liege, wartete auf ein Ergebnis, und nach minutenlangem Schweigen sagte meine Ärztin: „Da ist was Neues!“ Ich riss entsetzt den Kopf hoch und sah meinen Mann geschockt an. Es dauerte noch einige Minuten, bis meine Ärztin die Engstelle vermessen und mit den alten Ergebnissen verglichen hatte, doch endlich konnte ich aufstehen und meinem Mann in die Arme fallen. Ich weinte bitterlich. Vor mir zog ein Film ab, was nun wieder alles auf mich zukommen würde und welche Hoffnungen umsonst waren. Dieser Rückfall zerstörte augenblicklich all meine Träume von einer gesunden Zukunft, auf Normalität und auf ein weiteres Kind. Mein Mann nahm mich in die Arme und sagte: „Schieb jetzt keine Panik!“
„Wieso nicht?“, fragte ich ihn.
Er meinte nur: „Ja, du hast ja recht.“
Ich war so enttäuscht. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Ständig schoss ein Satz durch meinen Kopf: „Es lässt mich nicht los, es lässt mich einfach nicht los.“ Mein Mann war hilflos wegen meines Zusammenbruchs. So viele Jahre hatte er mich schon getröstet und mir Mut gemacht. Doch nun war auch er verzweifelt und ratlos. Dieser Rückfall bedeutete für ihn ebenfalls Schlimmes. Auch er wusste, was die medikamentöse Therapie für Wirkungen und Nebenwirkungen mit sich bringt, was es für unsere Familie wieder für Einschränkungen bedeutet. Und er war einfach sprachlos in dieser Situation. Doch dass er nichts weiter sagte, war nicht wichtig. Ich war einfach nur froh, ihn bei mir zu haben. Fabian sah natürlich, dass etwas nicht stimmte. Doch Christian sprach erst später mit ihm darüber – zu Hause in Ruhe.
Meine Familie brachte mich auf mein Zimmer auf der Station und verabschiedete sich dann von mir. Ich hatte noch einige Untersuchungen vor mir, und mein Mann wollte sich um Fabian kümmern, damit auch er die Situation versteht. Wir haben Fabian bereits vor langer Zeit erklärt, welche Art der Erkrankung ich habe, und er verstand es auch. Ich bin mir sehr sicher, dass er ebenfalls verstand, was dieser Rückfall nun bedeutete. Ich hoffte, dass meine beiden Jungs zu Hause zur Ruhe kommen konnten.
Ich hatte mehrere Aufnahmegespräche: mit dem Stationsarzt, dem PJler (praktisches Jahr während des Medizinstudiums) und bekam eine Menge Blut abgenommen. Den Stationsarzt kannte ich schon von einem früheren Krankenhausaufenthalt. Damals empfand ich ihn als unangenehm, überheblich und inkompetent. Doch er hatte sich zu einem guten, verständnisvollen Arzt entwickelt. Ich fühlte mich bei ihm in guten Händen. Er kam meinem Wunsch nach einem Schmerzmittel gleich nach und verordnete mir etwas Starkes. Bald darauf konnte ich annähernd schmerzfrei aufstehen und schlurfte langsam zur Pforte, um mein Telefon anzumelden. Ich musste dringend mit meiner Freundin Christine reden. Es war für mich so wichtig, sie zu hören, um diesen furchtbaren Augenblick mit ihr zu teilen. Sie hatte eigentlich gar keine Zeit und wollte unser Gespräch verschieben, da ihre Schwiegereltern gerade über Weihnachten zu Besuch gekommen waren. Doch ich musste sofort weinen und konnte gar nicht mehr sprechen. Sie war gleich ganz beunruhigt und fragte hektisch, ob etwas mit Christian oder Fabian passiert sei. Oder mit unserem Hund Nora. Als ich dann endlich wieder reden konnte und ihr alles erzählt hatte, versuchte sie, mich ein wenig zu beruhigen, und wollte gleich zu mir kommen. Doch es war ja kurz vor Weihnachten, ihr Besuch war schon eingetroffen, und ich wollte sie nicht aus ihren Erledigungen reißen. Ich sagte ihr, es täte bereits gut, sie zu hören und es ihr zu erzählen. Zwei Stunden später stand sie vor mir. Ich war unendlich froh. Sie nahm mich in die Arme und ließ mich einfach weinen. Ich konnte nicht mehr aufhören, und sie ließ es geschehen. Dass sie in diesem Moment einfach so für mich da war, vergesse ich ihr nie. Das tat so gut.
In meinem Zimmer lag noch eine ältere Frau. Sie war sehr nett, nur leider komplett überfordert von meinem vielen Weinen. Sie kannte meine Krankheit nicht und wollte sie mehrmals erklärt bekommen. Leider verstand sie nicht, dass für mich gerade die Welt unterging und dass ich bei meinem Mann, Christine und sogar bei meiner Ärztin immerzu weinte.
Am Abend telefonierte