wieder Hilfe zu benötigen und vor allem darum zu bitten. Ich war stets ein sehr selbstständiger Mensch, und ich fühlte mich durch meinen schlechten Zustand stark eingeschränkt.
Es dauerte nicht lange, und die „ersehnten“ Nebenwirkungen des Kortisons traten auf. Ich bekam Heißhungerattacken, aß bis zu sieben Mal am Tag und ekelte mich dabei leider vor mir selbst. Ich war schon immer ein Mensch, der sehr auf seine Figur achtete und stolz darauf war. Zu manchen Zeiten hatte ich in meinen Gedanken schon leichte anorektische (magersüchtige) Züge. Nun drehte sich mein Tag dank des Kortisons permanent ums Essen. Aber nicht wie früher, um darauf zu verzichten, sondern ich fragte mich, was ich als Nächstes essen könnte Schrecklich. Ich kannte von früheren Kortison einnahmen, dass ich gar nicht zu versuchen brauchte , das Essen zwanghaft zu reduzieren. Denn dann war ich schnell im Unterzucker und stopfte erst recht alles in mich hinein. Natürlich nahm ich in kürzester Zeit massiv zu und lagerte auch viel Wasser ein. Meine Oberschenkel und mein Po waren prall vor Wasser und hatten richtige Dellen. Ich fand den Anblick schlimm. Wenn ich in die Hocke ging, taten mir die Beine weh, alles spannte und kniff, und schnell schliefen mir die Unterschenkel ein. Mir passten nur noch zwei meiner vielen, vielen Hosen. Doch ich weigerte mich strikt, mir neue zu kaufen. Ich wollte nicht sichtbar vor Augen haben, dass ich meine bisherigen Hosen nicht mehr tragen konnte. Eine weitere mir bereits bekannte Nebenwirkung war die permanente Unruhe. Ich wurde zappelig, zittrig, fahrig und nervös. Ich wollte immer mehrere Dinge gleichzeitig tun und konnte nicht bei der Sache bleiben. Mich auf etwas zu konzentrieren, war unglaublich schwierig für mich. Am liebsten tat ich immer drei Dinge auf einmal, was aber weiß Gott nichts mit weiblichem Multitasking zu tun hatte. Denn wenn ich, während ich Auto fahre, noch zusätzlich Kaffee trinke, nach einem Kaugummi suche und den Radiosender einstelle, dann bringt mich das eigentlich nur in Schwierigkeiten. Sobald mir so ein Zustand auffiel, zwang ich mich, nur noch Auto zu fahren und eben keinen Kaugummi zu essen und einen schlechten Radiosender zu hören. Oder auf eine rote Ampel zu warten. Naja, das ist nur ein Beispiel von vielen. In meinem Kopf herrschte oftmals das reinste Chaos. Häufig verdrehte ich durch meine hektische Art Sätze oder sprach Wörter falsch aus. Das fiel niemandem auf, eigentlich nur mir. Und doch war es mir unangenehm. Ich litt unter massiven Stimmungsschwankungen, die auf das Kortison zurückzuführen waren. Damit hatte ich schon gerechnet, all das war mir von den vergangenen Jahren nur allzu bekannt. Doch ich hatte Angst davor. Vor allem Angst davor, Fabian und Christian wieder ungerecht zu behandeln, unnötig unfreundlich und ungeduldig zu werden. Doch mein toller Mann hatte auch hierfür wieder vollstes Verständnis und bat mich, lieber alles an ihm auszulassen als an Fabian. Im Nachhinein glaube ich, habe ich es auch recht gut geschafft, Fabian mit meinen Stimmungen nicht allzu sehr zu konfrontieren. Es gelang mir sicher nicht immer, doch ich gab mein Bestes.
Meine Extremitäten begannen in Ruhe unwillkürlich zu zucken. Manchmal nur leicht, manchmal stärker. Ich habe dies nie mit Ärzten besprochen, denn diese Myoklonien sind sicher nur wieder eine Nebenwirkung, die nirgends in der Literatur zu finden sind. Aber ich hatte es – und es nervte. Man will schlafen und zuckt stattdessen. Ich schwitzte nachts stark und musste mich manchmal umziehen, weil mir richtige Bäche den Körper herunterliefen. Schlafen konnte ich wegen des Herzrasens ungefähr nur drei bis vier Stunden pro Nacht. Mein Herz fühlte sich immer wieder an, als würde es mir aus der Brust springen, und ich verspürte seltsame „Herzstolperer“ – sogar tagsüber. Auch das kannte ich schon von früher, damals bekam ich zur Kontrolle EKGs, bei denen nie etwas Auffälliges zu sehen war. Daher ließ ich es dieses Mal nicht untersuchen. Doch beängstigend war es trotzdem. Am schlimmsten war es, wenn mein Mann neben mir schlief und ich nicht schlafen konnte, mein Herz so pochte, dass ich es in den Ohren rauschen hörte, und es dann auch noch „stolperte“. Manchmal wollte ich dann überhaupt nicht mehr versuchen, einzuschlafen. Denn ich hatte Angst, dass ich am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr aufwachte. Oft rutschte ich dann näher an meinen Mann, was mich immerhin etwas beruhigte. Logisch betrachtet war dies sicher eine unbegründete Angst, aber wer kann in einer solchen Zeit rationell denken und ein solches Gefühl außer Acht lassen? Ich konnte es nicht. Da half mir alles medizinische Fachwissen nichts. Ich fühlte einfach so. Später wurden die „Stolperer“, umso mehr ich das Kortison reduzieren konnte, immer seltener, und mein Puls war auch nicht mehr so hoch. Die Angst wurde dadurch ebenfalls wieder geringer.
In der Zeit, als ich kaum schlafen konnte, las ich nachts viel oder schaute haufenweise DVDs. Sämtliche „Sex andthe City“-Staffeln leisteten mir Gesellschaft. Manchmal putzte ich auch bis spät abends, da ich hoffte, dann einfach hundemüde ins Bett zu fallen. Ich sehnte tagsüber immer den Abend herbei, da ich mir im Schlaf Erholung erhoffte. Doch leider fand ich die nicht.
Kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fuhren wir nach Nürnberg zu Christians Bruder Marcus und seiner Frau Zsóka. Wir feierten Weihnachten nach mit ihren beiden Kindern Lena und Laura. Bei Zsóka brachen all meine Angst und meine Verzweiflung aus mir heraus. Ich weinte fürchterlich und konnte kaum mehr aufhören. Ich war mir sicher, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich fest entscheiden müsse, wie mein weiteres Leben verlaufen solle. Ich dachte, ich müsse hier und jetzt sofort entscheiden, ob ich später, am Ende der Therapie, das Risiko einer weiteren Schwangerschaft auf mich nehme oder mich für immer von meinem ersehnten zweiten Wunschkind lösen solle. Nur so glaubte ich, zur Ruhe kommen zu können. Aber was dann? Ich wollte immer eine gute Mutter sein und bin mir nicht sicher, ob ich das geschafft habe. Ich wünschte mir, alles noch einmal besser zu machen. Und ich wünschte mir immer ein Haus voller Kinder. Was fange ich mit meinem Leben an, wenn ich nicht noch einmal Mutter werde? Wie geht es mit Fabian weiter? Wie lange braucht er mich noch? Irgendwann werde ich nicht mehr für ihn wichtig sein. Und dann? Wie geht es mit mir beruflich weiter? Ist mein „Werk“ erfüllt? Habe ich schon getan, wofür ich bestimmt bin?
Meine Psychotherapeutin, bei der ich seit fast zwei Jahren eine Gesprächstherapie machte, stellte mir eine unglaublich schwierig zu beantwortende Frage: „Sie glauben also, wenn Sie sich mit Gewalt das gewünschte zweite Kind aus dem Herzen reißen, dann geht es Ihnen besser?“ Ja, das dachte ich. Doch es hat nicht so ganz funktioniert. Ich erkannte, dass ich meine Entscheidung aufschieben kann. Das jetzt gar keine Entscheidung ansteht. Auch mein Mann bat mich, mich jetzt nicht unnötig unter Druck zu setzen. Für ihn war nicht der Zeitpunkt, dies zu besprechen und zu entscheiden.
Ich fühlte mich unglaublich hässlich und unansehnlich durch meine schnelle Gewichtszunahme und litt furchtbar darunter. Vor wenigen Monaten noch trug ich wunderschöne, sexy Kleidung. Nun wollte ich mich am liebsten verstecken. Traurig war ich auch über meine Haare, die ich mir kurz vor dem Rückfall hatte abschneiden lassen. Ich wünschte mir nun eine Frisur, die durch längere Haare meine vollen Wangen verdeckt und hinter der ich mich ein bisschen „verstecken“ konnte. Ich wusste, so scheußlich würde ich jetzt wieder lange Zeit aussehen. Das war ich einfach nicht. Doch Christian meinte, ich sähe nicht hässlich aus. Ich sähe krank aus. Man sähe mir einfach an, dass ich schwer krank sei.
Ich weiß nicht, ob er je gemerkt hat, wie sehr mir das geholfen hat. Ich versuchte, mich nun mit anderen, mit seinen Augen zu sehen. Früher wollte ich mich nie als krank bezeichnen, ich wollte immer normal sein. Rein äußerlich sieht man mir die Takayasu (bis auf das Kortison) auch nicht an. Bei diesem Rückfall akzeptierte ich zum ersten Mal die Rolle der Kranken und damit auch ein Stück weit mein Aussehen. Durch Christians Äußerung konnte ich wieder besser mit mir umgehen. Und er liebte mich nach wie vor.
Ich ging drei Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt wieder in die Hausarztpraxis arbeiten. Meine Kollegen wollte ich nicht hängen lassen und schleppte mich aus reinem Pflichtbewusstsein in die Praxis. Doch mit so wenig Schlaf und meiner Unkonzentriertheit und Zittrigkeit konnte ich manche Tätigkeiten kaum ausüben. Blutabnehmen traute ich mich nicht mehr, und es war mir immer unangenehm, wenn mich Patienten auf mein verändertes Äußeres ansprachen. Jede Woche ging es mir in der Praxis körperlich und psychisch schlechter. Den Anforderungen an mich konnte ich durch meinen Schlafmangel kaum nachkommen, und mit meiner Chefin lag ich permanent im Clinch. Oberflächlich verhielt sie sich stets sehr verständnisvoll. Hin und wieder erkundigte sie sich nach meinem Zustand. Doch ich wurde ihr als „Kleinunternehmerin“ auch zur Last. Sie wusste bereits bei meiner Einstellung, dass ich diese Erkrankung habe, doch nun befand ich mich zum ersten Mal, seit sie mich kannte, in einem derart desolaten Zustand. Im Nachhinein denke ich oft, sie