da ich befürchtete, dass es irgendwie in meinen Unterlagen stehen und mir in Zukunft beruflich schaden könnte. Daher wollte ich mich auch in der Arbeitslosigkeit nicht weiter krankschreiben lassen. Nun befürchtete ich, ständig in Erklärungsnot zu geraten, wenn ich zukünftige Arbeitsstellen ablehnte. Noch fühlte ich mich nicht soweit, eine neue Stelle antreten zu können. Doch mein Sohn, der mich nach der Schule brauchte, war meine „Lösung“. Ohne Hortplatz kamen die wenigsten Stellen infrage.
Kurz vor den Pfingstferien bekam ich einen Anruf von meinem PaPa, der mir von einer neuen Heilpraktikerin erzählte, die meine Eltern seit einiger Zeit konsultieren. Dieser Therapeutin hatte er sein Herz über mich ausgeschüttet – daran merkte ich, wie nah ihm mein Zustand doch ging. Sie erklärte ihm, dass sie mir sicher nicht zur Genesung verhelfen könne, allerdings dabei, die Medikamente besser zu vertragen und die Nebenwirkungen zu lindern. Er bat mich, sie doch einmal kennenzulernen und dann zu entscheiden, ob ich mich auf sie einlasse oder nicht. Jahrelang habe ich nach einigen schlechten Erfahrungen keine Homöopathen mehr „ausprobiert“. Sollte ich es versuchen? Ja, ich vereinbarte einen Termin, und die Dame war auch sehr freundlich und das Gespräch vielversprechend. Doch sie arbeitete mit Kinesiologie (Behandlung über Muskeltests)– eine Erfahrung, die ich bereits gesammelt hatte und nicht noch einmal möchte. Außerdem ging sie mir, nachträglich betrachtet, zu nahe. Sie befasste sich weniger mit meinen Medikamenten und den Nebenwirkungen, ging jedoch schnell auf die psychische Ebene. Ich sagte ihr, ich befände mich bereits in einer Psychotherapie und bräuchte dazu keine weitere Hilfe. Doch sie ließ nicht locker und „verbiss“ sich mehr und mehr in meine familiäre Situation und Fabians Psyche. Hoppla, wegen Fabian war ich doch gar nicht hier… Sie wollte meinen Sohn unbedingt auch behandeln, da sie meinte, Kinder würden häufig die Sorgen der Eltern übernehmen. Ich müsste Fabians Unterbewusstsein unbedingt entlasten, und dies könne sie mit einer kinesiologischen Behandlung bewirken. Sie könnte ihn frei machen. Huch - nein, das ging mir zu weit. Nicht, weil ich Fabian keine nötige Behandlung zukommen lassen wollte. Doch ich hatte momentan nicht den Eindruck, dass er litt. Christian und ich diskutierten lange darüber, es war keine schnelle Entscheidung. Wir empfanden Fabians Zustand nicht als kritisch. Wir gingen bisher immer offen mit meiner Problematik um. Da wir nie Geheimnisse diesbezüglich vor ihm hatten, glaube ich, war er innerlich doch recht stabil. Dieses Erstgespräch kam mir auch ein bisschen zu esoterisch vor. Auch ihre Frage zum Schluss – „Vertrauen Sie mir?“ – empfand ich als seltsam. Ich kannte sie gerade mal fünfundvierzig Minuten.
Ich entschied mich gegen eine Therapie bei ihr. Für mich und für Fabian. Mein Gefühl, sie würde mir zu nahe treten, war zu stark. Ich wollte lieber weiter die Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Diese Entscheidung bereute ich nie. Ich besprach das auch mit meinen Eltern. Und ich denke, sie verstanden mich. Ich hoffte es.
Um wieder positive Zeit miteinander zu verbringen und vor allem einen Tapetenwechsel zu haben, brachen wir trotz meines wackeligen Zustandes zu unserer lange geplanten Pfingstreise auf. Seit Langem wollten wir zusammen den Isar-Radweg „bezwingen“. Christians Papa Richard fuhr uns mit all unserem Gepäck und unseren Rädern zum Isarursprung nach Scharnitz. Einhundertzwanzig Kilometer lagen vor uns, und wir waren begeistert von der wunderbaren Landschaft, an der wir vorbeikamen. Fabian hatte unglaublich viel Spaß und wollte abends, als wir uns ein Pensionszimmer suchten, gar nicht aufhören zu radeln. Wir schafften jeden Tag ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Kilometer. Selbst unser kleiner, schneller Hund schaffte die Strecke gut und hatte einen Heidenspaß. Doch am Abend des dritten Tages machte ich schlapp. Ich konnte nicht mehr, mir tat alles weh, und ich weinte. Ich war echt enttäuscht, denn ich hatte mir diesen Trip ebenso wie alle anderen gewünscht und im Vorfeld schon befürchtet, dass ich es nicht schaffe. Ich kam mir vor wie ein Versager. Doch Christian sprach mir Mut zu, war stolz auf mich, dass ich es immerhin neunzig Kilometer weit geschafft hatte. Außerdem regnete es seit einigen Stunden in Strömen, und all unsere Sachen waren nass. Richard holte uns mit dem Auto in Königsdorf ab und brachte uns heim. Im Auto schlief ich sofort ein. Fabian war sauer, denn er hatte noch lange nicht genug vom Fahrradfahren. Er sagte es nicht, aber vielleicht war er wütend auf mich, da ich schlapp machte. Ach, ich war auch sauer. Es dauerte einige Tage, bis ich mir selbst „verzieh“. Aber nicht nur Christian, auch mein PaPa baute mich auf. Vor allem mit der Aufmunterung „Viele Leute versuchen es nicht einmal, so weit zu radeln. Also sei stolz auf dich. Trotz deiner schlechten Konstitution bist du so weit gekommen.“ – Ja, sie hatten beide recht, und ein paar Tage später, als meine Erschöpfung abklang, fühlte ich tatsächlich Stolz. Auf uns alle. Um Fabians Radfahrdrang zu sättigen, fuhr Christian mit ihm einige Tage nach unserer Rückkehr, allein und ohne müde Mutter, von München zum Steinsee. Hin und zurück bezwangen die beiden achtundvierzig Kilometer. Nun war auch Fabian „satt"“.
Seit Juni war ich nun als arbeitssuchend gemeldet. Doch ich hatte keinerlei Antrieb, mich aus eigener Kraft irgendwo zu bewerben. Im Grunde war ich froh, zu Hause zu sein. Ich schrieb nur die vom Arbeitsamt vorgeschlagenen Stellen an. Noch immer fühlte ich mich abgeschlagen, leistungsunfähig und konnte mich schlecht konzentrieren. Meine Vormittage, wenn Fabian in der Schule war, versuchte ich deshalb so ruhig wie möglich zu gestalten. Ich schlief häufig, ging mit Nora raus und verteilte den Haushalt auf mehrere Tage. Als ich zu einem Probearbeiten in ein Behindertenheim eingeladen wurde, wollte ich schon fast absagen. Doch es hat sich gelohnt, mich aufgerafft zu haben. Plötzlich war ich Feuer und Flamme. Ich glaube, eine solche Arbeit tut mir gut. Seit vielen Jahren schon wollte ich mit behinderten Kindern arbeiten, doch der Schichtdienst war für unsere Familie problematisch. Jetzt aber war Fabian größer, und wir konnten es versuchen, dass ich – genau wie Christian – wieder wie früher im Schichtdienst arbeitete. Die Aussicht auf diese Stelle im Herbst hob meine Stimmung enorm. Auch das Gefühl, dass mich dieses Heim unbedingt haben wollte und mir mit den Arbeitszeiten sehr entgegenkam, stärkte mein Selbstbewusstsein sehr, und ich sah der Zukunft wieder positiver entgegen. Bis zum Arbeitsbeginn waren es noch mehrere Wochen, was mich freute, da ich mich noch weiter erholen konnte.
Eines Tages nach den Ferien rief mein Bruder Martin überraschenderweise an und bat mich, mich zu setzen. Als ich saß, sagte er mir stolz, er und seine Frau Anita würden im November Eltern werden. Ich freute mich riesig darüber. Doch es schnürte mir auch die Kehle zu. Ich versuchte, während des Telefonats meine Tränen zurückzuhalten, was mir recht gut gelang. Allerdings erfuhr ich auch, dass ich die Letzte war, die über die Schwangerschaft informiert wurde. Das traf mich hart. Mein Gefühl kann ich aus dieser Situation ganz schwer beschreiben. Ich war glücklich und stolz, zum dritten Mal Tante zu werden, doch ich war auch traurig und neidisch. Außerdem war ich enttäuscht, dass ich als Martins einzige Schwester so unwichtig war, dass man mich so spät einweihte. Christian konnte mit meiner Verfassung nicht recht umgehen. Aber ich brauchte jemanden zum Reden, und daher besprach ich mich mit Chrissy. Sie meinte, mein Bruder und seine Frau hätten es sicher nicht böse gemeint. Im Gegenteil, sie wüssten sicher, wie es mir gehen würde, und hatten diesen Moment hinauszögern wollen. Vielleicht hätten sie sogar Angst davor gehabt.
Einige Tage später wollte Chrissy mich mit Tim, ihrem Sohn, besuchen kommen. Das war ungewöhnlich, und sie ließ auch nicht locker. Der Zeitpunkt passte mir eigentlich gar nicht recht, doch sie wollte es unbedingt. Als sie auf der Couch saß und meinte, sie müsse mir etwas erzählen, sagte ich nur: „Das brauchst du nicht. Ich weiß, du bist schwanger!“ Ja, es stimmte, sie erwartete ihr zweites Kind. Sie wollte wissen, weshalb mir das so klar sei, denn sie selbst wisse es erst seit gestern und ich sei die Erste im Freundeskreis und in der Familie, die davon erfuhr. Ich wusste bei dem Telefonat mit meinem Bruder schlagartig, woher auch immer, dass auch sie schwanger war. Es war keine Vermutung, sondern Klarheit. Chrissy war natürlich überrascht. Sie wollte es diesmal nicht dem Zufall überlassen, wie bei Tims Schwangerschaft, dass ich davon erfuhr. Sie wollte es mir persönlich und bald sagen. Darüber habe ich mich über alle Maßen gefreut. Chrissy denkt immer viel zu viel und will immer alles richtig machen und den richtigen Zeitpunkt für alles treffen und planen. Mit ihrer Offenheit hat sie bei mir alles richtig gemacht und mich nicht in Watte gepackt. Sie ließ mich anschließend bald allein. Ich wollte mich freuen und traurig sein zugleich. Die Freude überwog trotz allem. Sie ist meine beste Freundin, dass sie ihr Familienglück findet, freut mich sehr.
Irgendwann war ich in der Lage, meinen Bruder um ein Gespräch zu bitten. Ich wollte das Verhältnis, bevor er Vater wird,