Mal besucht, als sie krank war? Übrigens wir Kinder bekamen nicht das kleinste Geschenk, damit euch im Osten nichts abgeht. Unser Geschenk war, dass wir die Bücher, die an Euch geschickt wurden, vorher lesen durften.
Ja, wir im Osten waren ihre Aufgabe. Sie musste immer nützlich sein. Sie war in allem schrecklich konsequent.
Inga reihte eine Besonderheit, typische Begebenheit an die andere, erzählte die Geschichten ihres Vaters aus dessen Kindheit, Jugend. Kaum etwas war Annette neu. Doch sie hörte gern zu, steuerte selbst Geschichten bei, die sie in ihrer Familie gehört hatte.
Eigentlich hat mein Vater Omi nicht gemocht, schloss Inga.
Glaube ich nicht, erwiderte Annette. Schon dein Name.
Das war in seiner Jugend. Er konnte weder seine Mutter noch seine Schwester leiden.
Ich kenne es anders. Meine Mutter sagte, in seiner Jugend habe er Omi abgöttisch geliebt. Auch zu meiner Mutter habe er ein beinahe zärtliches Verhältnis gehabt. Ich denke, er hat sehr um Omis Anerkennung gerungen und sie dann auch bekommen. Er behauptet sogar noch heute, dass er meine Mutter liebe, was auch immer er damit meint.
Eine Hassliebe wird es gewesen sein, schloss Inga. Aber einem Kind so einen Namen zu geben! Ingelotte! Als ich zwölf Jahre war, habe ich mich umgetauft. Hat es mit deinem Namen etwas auf sich?
Von Annette von Droste-Hülshoff.
Ahja! Die wurden hier in der Nähe geboren, auf dem Schloss Hülshoff. Am Ende ihres Lebens war sie bei der Schwester in Meersburg am Bodensee. Das weißt du?
Nein. Ich hab nur von ihr gelesen. Es passte sehr zu meiner melancholischen Stimmung in meiner Jugend.
Wenn ich an Omi denke, sagte Inga zum Abschluss, dann zuerst, wie sie mir in Bonndorf vorgelesen hat. Wir sind eine Waldhöhe hinaufspaziert, nur wir zwei, und sie hat mir "Oliver Twist" vorgelesen. "David Copperfield". Da war ich acht. Das macht alles wett.
Mit acht Jahren hast du "David Copperfield" gehört?
Anspruch fordert, ich hab alles verstanden.
Sie hat uns allen vorgelesen, sagte Annette. Alle erinnern sich. Deine Schwestern, meine Schwestern, meine Brüder. Sie hatte eine regelrecht theatralische Begabung.
Sie konnte auch zuhören, erinnerte sich Annette und nannte das, was ihr an der Großmutter am meisten gefallen hatte. Sie nahm dich ernst, wie jung du auch warst. Diese Offenheit, dieses Interesse für die Jugend hat sie sich bis ins hohe Alter bewahrt. Omi war über viele Jahre meine einzige Freundin. Ich hab ihr Briefe geschrieben, sogar Gedichte geschickt, die sonst niemand zu sehen bekam.
Existieren die Gedichte noch?
Annette lachte auf. Nein.
Sie war klar bis fast zuletzt, sagte Inga.
Das letzte halbe Jahr nach dem Schlaganfall, meinst du.
Ja. Bis dahin.
Die Cousinen lächelten, in gemeinsamer und verschiedener Erinnerung versunken. Annette sah Inga an. In ihre gelbgrünen Augen war etwas von Sonnenwärme gekommen, da sich das Lächeln bis in die Augenwinkel fortsetzte, in denen sich ein kleiner Strahlenkranz bildete. Das Gesicht schmal, ein Einschnitt in Höhe der Nasenwurzel, die Nase ebenfalls schmal, etwas gebogen, das Kinn ausgeprägt. Ein schwäbisches Gesicht, ein schönes Kaschperl-Gesicht.
Um das Gefühl von Nähe, Gemeinsamkeit noch zu verstärken, erzählte Inga von der ersten Begegnung zwischen ihrer nächst jüngeren Schwester und Annettes jüngstem Bruder. Sie sollen sich angeschaut haben, als sähe jeder im anderen sein Spiegelbild.
Diese Erzählung war Annette nicht neu. Kann ich nicht finden, sagte sie. Conny sieht aus wie du. Alle sehen aus wie du. Im Grunde seht ihr wohl alle aus wie eure Mutter, nur dass ihr - bis auf Nanne - blond und helläugig seid. Bylle kenne ich allerdings nicht.
Bylle kommt extrem nach mir. Letztens hat ihre Tochter zu mir gesagt: Du siehschst aus wie die Mama, nur hasch längre Hoar.
Ist schade, dass du kein Schwäbisch mehr sprichst.
Das kann ich mir hier oben als Ärztin nicht leisten.
Inga stand auf, um im Haus einiges zu erledigen. Annette wollte nicht als unhöflich gelten, stand ebenfalls auf. Eine große Verlegenheit befiel sie, und sie wusste nicht wohin mit sich. Wenn Wolle hier wäre, würde ich mich nicht so fühlen, dachte sie.
Inga fuhr mit Annette in ein Lokal am Rande eines Moors, erklärte, sie sei auch mit Wolle oft dorthin gegangen. Annettes Portion war so reichlich, dass sie ein Stück des Schnitzels liegen lassen musste, obwohl sie immer guten Appetit hatte. Doch wenn sie mit Inga zusammen war, reichte er nie aus. Du musst dir noch einen westlichen Magen zulegen, hatte Inga bei einer ähnlichen Gelegenheit gemeint. Der braucht lange nichts und kann auf einmal eine große Menge essen. Annette sah bedauernd auf das schöne Stück Fleisch. Inga hatte sich etwas Vegetarisches bestellt.
Es schmeckt wirklich gut, sagte Annette.
Mit einem Mal spießte Inga Fleisch auf dem Teller ihrer Cousine auf ihre Gabel.
Aus einem Spaziergang am Rande des Moors wurde nichts. Die Mücken wurden von Inga weißer Jacke angezogen, jagten sie. So fuhren sie zurück. Inga zog die Markise herunter, erklärte, dass die Wärme, die die Steine abstrahlten, sich unter der Markise besser hielte. Sie schenkte einen leichten Weißwein ein.
Wie ist es eigentlich nun mit dem Haus?, fragte Annette.
Das gehört nun mir.
Du hast die Abzahlungen ganz allein zu leisten?
Inga erklärte, bis wann sie keine Steuern zu zahlen hätte oder steuerbegünstigt sein würde. Gut wirtschaften hatte Inga schon immer gekonnt. Was macht es, wenn ich mir jetzt kein Haute-Couture-Kleid kaufe, sagte sie. Ich hab so viel, immer der klassische Schnitt. Alles passt mir, weil ich die Figur behalte. Größe 36. Natürlich, ein Haus für mich allein, das ist schon Luxus.
Inga erzählte Annette vom Urlaub. Drei Wochen war sie mit ihrem Auto kreuz und quer durch Deutschland gefahren. Sie kam auf das Reisen im Allgemeinen, zählte auf, wohin man jetzt nicht reisen könne, nannte unter anderem Ägypten, Marokko. Ist das nicht schade?, sagte sie.
Je mehr der Garten im Dunkel verschwand, umso mehr nahm der Himmel zu. Sie schauten, bis die Kühle sie ins Haus trieb.
Am Morgen zwang sich Annette, liegen zu bleiben, schlief noch einmal ein. Als sie Inga in der Küche hörte, ging sie sich im Eingangstrakt duschen.
Gut geschlafen?, fragte Inga, als Annette die Tür aufschob.
Ja, erstaunlicherweise. Wo duschst du dich eigentlich?
Hast du das noch nicht gesehen? Inga öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Daneben der Raum für ihre Kleider. Daneben das Bad, die Wanne in den Boden eingelassen. Drei Bäder haben wir im Haus, wusstest du das nicht? Inga rechnete die Souterrain-Wohnung mit, die sie normalerweise der Steuer wegen vermietete. Jetzt stand sie wegen eines Wasserschadens durch Rohre der Fußbodenheizung leer. Die Wohnung kannte Annette nicht.
Wir frühstücken im Garten.
Ist es nicht zu frisch?
Du wirst schon sehen, sagte Inga.
Der Tisch stand windgeschützt zwischen Hecken in einer Ecke, in der der Garten über die Länge des Hauses hinausging. Hier sah man auf hohe Bäume wie auf einen Waldrand. Die Sonne schien auf diese Ecke im Garten. Bald wurde es sehr warm. Annette aß mehr, als sie Appetit hatte. Sie wusste, erst am frühen Abend gäbe es eine nächste Mahlzeit.
Sie fuhren in die Stadt. In der Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses suchte Inga das zusammen, was sie für die Abendmahlzeit und für den nächsten Tag brauchten, stellte sich da und dort am Stand an, kaufte von dem und jenem. Wie eine Zeremonie schien Annette dieses Einkaufen, dieses Aussuchen aus verwirrend großem Angebot. Annette bat, ob sie etwas tragen könne. Das ist gut, dass ich diesmal jemanden dabei hab, sagte Inga.
Früher haben Wolle und sie zusammen eingekauft,