schlug Gernot ein Lied vor, manchmal Annette. Aber nun kamen beide nicht mehr über die erste Strophe hinaus. Warum könnt ihr keine Lieder?, war sie im Ausland gefragt worden. Es war ganz einfach: Man schämte sich der deutschen Volkslieder, weil sie sich in ihren Ohren zu Marschliedern verwandelten. Obwohl sie erst nach dem Krieg geboren wurden, hatten sie durch Filme einen Eindruck, der ihnen das Singen dieser Lieder verleidet. Ihre Grundschullehrerin allerdings hatte keine Bedenken gekannt und mit ihnen in den ersten vier Klassen viel gesungen.
Ännchen von Tharau, sagte Gernot.
Ännchen von Tharau, ein Lieblingslied, sagte Annette. Sie verstellte sich nicht mehr. Sie sang, es war ihr gleichgültig, dass Jana und Silvie zuhörten. Doch sie kannten nicht einmal die erste Strophe richtig und suchten verzweifelt nach dem Text. Und weil sie sich von dem Lied nicht trennen konnten, sangen sie die erste Strophe dann gleich dreimal hintereinander.
Warum singst du nicht?, fragte Gernot Jana.
Ich singe eben nicht, sagte Jana ungerührt.
So ist Jana, sagte Gernot. Sie hat kein Gefühl, sie ist kein bisschen romantisch.
Stimmt, sagte Annette.
Es war das erste Mal, dass sie sich genau verstanden. Jana hatte ihr von Gernots Vorwürfen erzählt, sie erkalte schnell, war schroff und verletzte. Annette hatte lachen müssen, so recht hatte Gernot. Nicht ganz recht natürlich. Das war, was zunächst an ihr auffiel. Herz und Gemüt hatte Jana auch, und manchmal konnte man es merken.
Gernot nötigte Annette noch ein Lied auf und noch eines und noch eines. Darüber wurden Jana und Silvie schwermütig. Die Stube verraucht. Schon lange ging Gernot nicht mehr in die Küche.
Genug, genug, sagte Jana.
Noch eins, bat Gernot. Noch ein einziges. Der Mond ist aufgegangen.
Das eine noch, sagte Annette. Und dieses eine Mal kannte sie den Text.
Dreißig oder fünfzig Jahre haben wir noch, um uns zu entscheiden, sagen die Wissenschaftler, teilte Annette Gernot mit. Einzelinteressen dürfen nicht mehr gelten. Es geht um die Gattung.
Ja, ich habe davon gehört. Gernot nickte bedächtig.
In welcher Zeit wir leben!
Musst du jetzt so was sagen! An diesem Abend? Jana war ungehalten.
Endzeit hat man das in der Bibel genannt.
Oder totaler Neubeginn.
Redet nicht von so was, sagte Jana wieder.
Es ist herrlich, bei euch zu sitzen, sagte Gernot. Auf diesem Stuhl. Ich werde es nicht vergessen.
Die Stühle sind schön, nicht wahr, sagte Annette. Die lederbezogenen mit dicken Ziernägeln versehenen Stühle, die Jana mit dem runden Tisch einer alten Frau billig abgekauft hatte. lobte Annette oft. Schätze sie, sagte sie zu Jana. Und die sagte: Ja, ich schätze sie. Und wenn ich einmal sterbe, vermache ich sie dir. Aber davon wollte Annette nichts wissen.
Jana wird diesen Mann bekommen, dachte Annette. Und mit ihrem leicht alkoholisch vernebelten Gehirn begriff Annette Gernot mit einem Mal. Seine Verwunderung, seine Angst. Und seine Sehnsucht, mit Jana noch einmal eine Liebe zu erleben. Seine Sehnsucht wäre vielleicht stärker als seine Angst, seine Familie zu verlieren. Er war in dem Alter, wo Männer noch einmal einen Neuanfang wagten. Aber seine Kraft lag auch in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst. Er rauchte, trank und arbeitete bis tief in die Nacht. Ein Mensch ohne Zukunft, dachte Annette. Ein Mensch, der sich zugrunde richtet. Ich würde so einen Mann nicht haben wollen. Ich würde mich fürchten, wenn er mich haben wollte.
Ich sitze hier auch gern, sagte Annette und dachte: Wenn er von Jana Besitz ergreift, werde ich kaum noch hierher kommen.
Sie hatte Gernot immer wieder gedrängt, von sich zu erzählen. Es war Interesse, aber auch Taktik gewesen, Teil der offensiven Verteidigung. Als sie ihn jetzt dazu bat, war er bereit.
Ja, er hatte mit dreizehn Jahren Gedichte geschrieben. Ja, er stammte aus dem Norden. War mitten im Krieg in Stettin geboren, woran er natürlich keine Erinnerung mehr hatte. Nach der achten Klasse ging er wegen seiner jüngeren Brüder in die Fabrik. Dann Qualifizierungen. Fachschulstudium. Hochschulstudium. Hatte Leistungssport getrieben. Nun war er hier.
Lesen Sie?
Wenig.
Schreiben Sie noch?
Lass das, verhöre ihn nicht, sagte Jana.
Silvie hing auf ihrem Stuhl. Annette nickte ihr zu. Zeit zu gehen, sagte sie.
Ja. antwortete Silvie müde.
Gernot bestand darauf, Janas Freundinnen zur Tür zu begleiten. Er schwankte nicht. Und noch immer gab es für seinen schwer angetrunkenen Zustand kein Zeichen. Seine dichten, eher blondrötlich gelockten Haare an der Stirn etwas verklebt. Und er fuhr sich ständig durch den Backenbart. Jetzt sah sie auch, die Nase hatte eine kleine Delle. Hatte er geboxt?
Herzlichen Dank, sagte Jana und schaute auf Gernot, damit die Freundinnen mitbekamen, wofür sie sich bedankte.
Auf Wiedersehen, sagte Gernot und hing auf einmal an Annettes Hals und konnte sich nicht trennen.
Die drei Frauen lachten. Wieder wunderte sich Annette, wie geduldig Jana diese Entgleisung hinnahm. Sie war vielleicht noch ein ganz anderer Mensch als der, den sie kannte.
Bis zur S-Bahn hatten Silvie und Annette einen gemeinsamen Weg. Sicher wird er nun dableiben, sagte Silvie.
Ja. An morgen möchte ich lieber nicht denken.
Nee. Sie wussten beide, was sie meinten. Wenn man morgens mit schwerem Kopf und einem fremden Mann neben sich im Bett aufwachte. Man kann nur hoffen, dass sie´s gut übersteht.
Ja, kann man nur hoffen, sagte Annette.
Sie sagten nichts über Gernots Frau, die diese Nacht umsonst warten würde. Aber vielleicht blieb er bei gelegentlichen Sauftouren auch irgendwo lange hängen und die Frau war das gewöhnt. Sie sagten auch nichts über Helmut, mit dem Silvie früher gegangen war. Das belastete die Beziehung immer noch. Obwohl Silvie ja froh sein konnte, dass sie nicht mehr in einer Beziehung mit einem verheirateten Mann steckte.
Vor dem alten S-Bahngebäude verabschiedeten sie sich.
Ja dann, sagte Silvie und hatte wieder ihr kleines unsicheres Lächeln, mit dem sie stets „Ich weiß ja auch nicht!“ zu sagen schien. Auch sie hielt den Arm fest am Körper und streckte nur die Hand aus.
Bis nächstes Jahr!, sagte Annette und lachte. Diesmal war´s eben … anders.
Kann man wohl sagen! Auch Silvie lachte, aber es klang bekümmert.
Annette ging über die Straße und dann eine Straße längs zur Allee hinauf. Sie hatte es nicht weit zur Wohnung einer Freundin. Ich habe Jana nichts vorzuwerfen, sagte sie sich immer wieder und versuchte, sich dies einzuprägen. Sie dachte daran, dass sie alle drei ausgekostet hatten, wie es war, allein zu leben. Und wie sie bereit waren, einen hohen Preis dafür zu bezahlen, nicht mehr ganz allein zu sein. Silvie war in ihrer Ehe nun augenscheinlich zufrieden und wunderte sich immer wieder über ihren kleinen Sohn. Jana nahm es hin, dass Gernot zu viel getrunken hatte. Und Annette? Manchmal sagte Jana zu ihr: So wie du zu leben, das hielte ich nie aus. Immer auf Ihn zu warten, nie was im Voraus zu wissen …
Am Montag rief Jana an. Sie war ausgelassen, glücklich. Ich hab von Silvie gehört, ihr habt euch Sorgen gemacht. Wieso bloß?
Ach. Manchmal mache ich mir eben Sorgen.
Anette traf Silvie nie wieder. Vorbei waren die alljährlichen Treffen zu dritt.
Jana hatte den Mann fürs Leben gefunden. Fortan musste sie nicht mehr auf Jana wie auf eine Schwester achten.
1986
Eine Telefonzelle.
Eine Telefonzelle.