Michael Stuhr

DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN


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von ihr erwartete ...

      „Das erste Glied des kleinen Fingers der linken Hand.“ Kevin hielt ihr das Messer mit dem Griff voran hin. „Mach es einfach, und dann fahren wir nach Hause.“

      „Du – du bist völlig verrückt!“, stellte Anna entgeistert fest.

      „Bitte!“ Kevins Stimme klang eindringlich, fast flehend. „Es tut kaum weh. Siehst du denn nicht, dass das unsere letzte Chance ist?“ Mit der freien Hand fingerte er ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Jackentasche. „Hier, leg was davon unter. Es wird ein wenig bluten.“

      Der Messergriff schwebte vor Annas Gesicht. Sie schob Kevins Hand weg. Himmel! Was für ein Wahnsinn! Sollte sie jemals wieder bereit sein, es mit einem Mann zu versuchen, würde sie sehr genau hinschauen. – Vorher!

      Verdammte Einsamkeit! – Zu was die einen so treiben konnte. Sie ertrug es nun mal schwer allein zu sein, das hatte Anna schon bei ihrem Au-Pair-Job in Lima festgestellt.

      Die deutschstämmige Familie bei der sie dort gejobbt hatte, war ganz nett gewesen, aber trotzdem hatte Anna sich sehr einsam gefühlt - und dann hatte sie abends am Strand Otoronco, den Jaguarmann, getroffen. Er hatte sich darauf spezialisiert, in dem reichen Stadtteil Miraflores die alte schamanische Medizin zu praktizieren, und er verdiente so gut dabei, dass er sich selbst ein schönes Haus in der Nähe des Strandes leisten konnte. Eigentlich aber kam er aus den Bergen, und er sehnte sich nach dort zurück. Sie hatten sich gegenseitig benutzt wie Spielzeuge gegen die Einsamkeit, und so war Anna auch nicht sonderlich überrascht gewesen, dass Otoronco sie einfach so hatte gehen lassen, als ihre Zeit in Lima um gewesen war. – Nicht gerade eine Traumbeziehung, das musste sie zugeben, aber immerhin hatte er ihr über eine schwere Zeit hinweggeholfen. – Und er hatte ihr etwas mitgegeben, was sie auf ewig an ihn erinnern würde.

      Leises Gemurmel kam vom Rücksitz. Inti hatte sich in so etwas wie eine Trance hineingesteigert und murmelte nun unverständliche Worte vor sich hin. Es hörte sich fast an wie Quetchua, die Sprache seines Vaters, aber das konnte natürlich nicht sein.

      „Was brabbelt der da?“ Kevin warf unwillig einen Blick nach hinten, und auch Anna schaute sich kurz um. – Musste der Kleine denn ausgerechnet jetzt Kevins Aufmerksamkeit auf sich ziehen?

      „Was ist jetzt?“, drängte Kevin und bot ihr wieder das Messer an. „Zeig mir, wie sehr du mich liebst!“

      Kurz flackerte in Anna der Gedanke auf, das Messer zu nehmen und Kevin die Klinge in den Körper zu treiben, aber sie wusste, dass sie das nicht fertigbringen würde. „Geh weg“, flüsterte sie kraftlos und drehte den Kopf zur Seite. „Geh doch bitte einfach weg.“

      „Du hast gewählt!“ Kevin nickte. Der Messergriff verschwand aus Annas Blickfeld. Sie hörte, dass er die Tür öffnete und ausstieg. – Konnte es wirklich so einfach sein? Würde er jetzt tatsächlich gehen und sie in Ruhe lassen, vielleicht für immer?

      Natürlich nicht! Annas Kopf schnellte herum, als die Rücklehne des Fahrersitzes nach vorne schwang und Kevin sich durch den schmalen Spalt wieder in den Wagen zwängte. „Das wird dich genauso gut daran erinnern, was für eine Schlampe du mal warst. Gib nicht mir die Schuld. Du warst es, die gewählt hat!“ Er zog ein Papiertaschentuch aus der Packung, legte es zusammengefaltet auf das gepolsterte Tischchen von Intis Kindersitz und griff nach der Hand des Kleinen.

      Schnell wie der Blitz war Anna aus dem Wagen heraus und um die Motorhaube herumgelaufen. Kevin hockte halb auf der vorgeklappten Rückenlehne des Fahrersitzes und hatte sich über Inti gebeugt. Sein rechtes Bein ragte aus der Türöffnung und er stützte sich mit den Zehenspitzen auf dem Asphalt ab.

      „Niemals drohen“, hatte Anna mal in einem Selbstverteidigungskurs für Frauen gelernt. „Der Kerl ist fast immer stärker. Sofort das Maximum an Schmerz erzeugen und dann schnellstens verschwinden.“ Sie knallte aus vollem Lauf die Tür zu und warf sich mit aller Kraft dagegen. Das Knacken der Türscharniere ging in Kevins Schmerzensschrei unter. Er bäumte sich auf, das Messer flog auf die Ablage unter der Heckscheibe, und er versuchte, die Tür wieder aufzudrücken.

      Noch einmal warf Anna sich mit aller Kraft gegen das Blech und wich dann zurück.

      Die Tür flog auf, und mühsam kam Kevin aus dem Auto gerutscht. „Du hast mir das Bein gebrochen“, jammerte er. „Du verdammte Sau hast mir wirklich das Bein gebrochen!“

      „Stell dich nicht so an!“ Das Bein war definitiv nicht gebrochen, sonst hätte Kevin es niemals so belasten können, wie er es tat. Er hatte sich an Dachkante und Scheibenrahmen hochgezogen und stand in gekrümmter Haltung in der geöffneten Autotür.

      „Dafür bring ich dich um!“

      „Versuch doch noch mal einzusteigen“, schlug Anna keuchend vor und duckte sich ein wenig, um sofort lossprinten zu können, „dann brech ich dir wirklich die Knochen!“

      „Ich bring euch um! Ich bring euch beide um!“ Kevin machte einen hüpfenden Schritt auf Anna zu. Blut begann sein rechtes Hosenbein zu verfärben.

      „Weg vom Auto!“, kommandierte Anna. „Du hast verloren! Verpiss dich!“

      „Du verdammte ...“

      Plötzlich drang gleißende Helligkeit die Rampe vom oberen Parkdeck herab, und gleichzeitig erklang donnerndes Motorengeräusch das schnell lauter wurde.

      „Was zum Teufel ...“, hörte Anna Kevin noch sagen, da kam auch schon das erste Motorrad die Rampe herab. Anna erkannte es sofort, aber sie konnte kaum glauben, was sie sah: Diese Maschine gehörte nicht in diese Stadt, nicht in dieses Land, ja noch nicht einmal auf diesen Kontinent. Die kobaltblau irisierende Lackierung und der schwarze Falkenkopf auf der Seite des Tanks machten diese Maschine einzig auf der Welt. Die Farbe des Himmels und das Zeichen des Falken: Das war die Maschine von Waman, dem Falken, dem Anführer der Bellacos von Lima! – Aber wie kam die hierher?

      Anna hatte Waman als einen Vater am Rand der Verzweiflung kennengelernt. Sein fünfjähriger Sohn war Epileptiker, und schließlich hatten die Anfälle ein Ausmaß angenommen, dass man um das Leben des Jungen hatte fürchten müssen. Waman hatte indianische Wurzeln, und so war es für ihn nicht ungewöhnlich gewesen, in dieser Situation zu einem Schamanen zu gehen – und der beste Schamane von ganz Lima war nun mal Otoronco, Annas Freund.

      Otoronco hatte dem Jungen helfen können. Die Anfälle waren seltener geworden und schließlich ganz abgeklungen. Von da an war es gewesen, als wenn Otoronco und Anna ihre eigenen Bodyguards gehabt hätten. Während andere Bürger von Miraflores sich duckten und in Hauseingängen verschwanden, wenn Waman und seine Gang auftauchten, hätten Otoronco und Anna ihr ganzes Geld um Mitternacht am Strand spazieren tragen können, was man dem Normalbürger nun wirklich nicht empfehlen konnte. Es war in Annas Zeit in Lima kaum eine Woche vergangen, ohne dass man irgendwo die ausgeraubte Leiche eines leichtsinnigen Touristen gefunden hätte, und sehr oft hatten die Bellacos mit zu den Hauptverdächtigen gehört. Das hatte Otoronco aber nicht davon abgehalten, Wamans Sohn zu helfen, und Wamans Dankbarkeit kannte keine Grenzen.- Trotzdem: Wie kam er hierher?

      Vier weitere Maschinen kamen die Betonrampe herab. Alle Fahrer waren ohne Helm unterwegs und verbargen ihre Augen hinter den typischen halbrunden Sonnenbrillen. Trotzdem erkannte Anna sofort, dass es Indios waren. Es waren die Bellacos, da gab es überhaupt keinen Zweifel.

      Das Getöse der offenen Auspuffanlagen hallte von der niedrigen Betondecke zurück. Anna sah, dass Kevin eine unbeholfene Fluchtbewegung machte. Am liebsten wäre er wohl in den Wagen gestiegen und ganz schnell von hier verschwunden, aber Anna passte auf: Nur eine einzige falsche Bewegung, und sie würde ihn wieder in den Spalt zwischen Tür und Holm einklemmen – und diesmal würde etwas brechen!

      Waman stoppte seine Maschine, klappte den Seitenständer runter und stieg ab. Seine Begleiter hielten ein paar Mannslängen Abstand und blieben auf ihren Maschinen sitzen. Was immer sie auch planten: Sie trauten es ihrem Boss zu, dass er allein damit fertig wurde.

      „Buenos Dias, Waman“, grüßte Anna den Anführer der Gang, aber der reagierte nicht darauf. Er schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Mit langsamen Schritten